Was auch immer uns antreibt
Das Leben neigt dazu, gnadenlos repetitiv zu sein. So geschah es zum Beispiel auch an diesem Tag, dass sie aufwachte.
Sie öffnete die Augen und starrte zu den Deckenpaneelen. Eine ganze
Weile. Da war dieser Fleck. Dieser einstige, nie überstrichene
Wasserschaden. Immerhin kein Schimmel. Glaubte sie. Würde sie den Fleck
nur lange genug betrachten, offenbarte seine Form ihr vielleicht
Hinweise auf die großen Fragen des Lebens. Wobei es ihr für den Moment
schon ausreichen würde, wenn er ihr verriet, wie sie die Energie
aufbringen könnte, das Bett zu verlassen. Denn die Zeit war so ungnädig,
unbeachtet ihres Unvermögens irgendetwas zu tun, einfach
weiterzulaufen.
Was könnte es sein, was würde ihr Antrieb verleihen? Was wäre ein
Grund, eine Motivation? Oder – besser – was würde sie konstant so reich
versorgen, dass Aufstehen, und alles, was anschließend noch so folgen
würde, sich gar nicht wie unsichtbare Hürden anfühlte, die es erst
einmal zu überwinden galt. Wenn sie dieses Kräftesuchen, das
Kräftesammeln nicht benötigte. Denn Dinge laufen eben. Das wäre schön.
Sie fragte sich, was andere Menschen wohl am Laufen hielt.
Nun, da gab es zum Beispiel … die Liebe. Der Wasserschadenfleck sah ein wenig wie ein Herz aus. Schön.
Und dann war da auf einmal diese voluminöse Bassstimme.
„Holde, ich warte auf dich“, rief es vom Hofe. Ihr Liebster. Sogleich
tat ihr Herz einen Sprung. Einen von denen, die keine Sorge über den
Gesundheitszustand auslöste. Sie warf die Decke durch ihr Gemach und
verließ das Bett leichtfüßig in einer Pirouette. Als sie die Türe
aufriss, stand ihr Geliebter in der Schwelle, hob sie in die Lüfte,
drehte sich mit ihr dreimal im Kreise, obwohl es ihr doch ohnehin
bereits vor Glück alles drehte. Nachdem er sie sanft zu Boden gleiten
ließ und sie lange Küsse ausgetauscht hatten, säuselte er ihr
Liebesbekundungen ins Ohr.
„Ich werde immer bei dir sein!“,
„Oh schön“,
„Und wann immer dich etwas bedrückt, wann immer dir das Leben mühsam und
wie eine Bürde scheint, so musst du nur an mich denken und alles wird
gut. Ich bin da und heile dich. Du brauchst nichts sonst, wir werden
eins. Ich bin dir Grund morgens aufzustehen.“
„Nur du, und nichts sonst?“
„Ist es nicht das, was du dir wünschst?“
„eigentlich nicht“, gestand sie ihm und sich.
„Ach Holde, dann ist es auch nicht weiter schlimm, dass es mich nicht gibt.“
„Nicht?“,
„Nein Holde, ich bin ein Fleck auf deiner Deckenpaneele. Mich gibt es nicht. Wohl aber den Schimmel hinter mir.“
Ohja, es stimmt. Es gab ihn nicht. Nicht einmal als Konzept. Der
Tagtraum war zu Ende und sie darüber beinahe erleichtert. Wäre die Liebe
genau so, es würde sie mehr anstrengen als antreiben. Und würde man
Liebe zu dem machen wollen, man stürzte sich wohl gemeinsam ins Unglück,
beim Anspruch sich gegenseitig alles sein zu müssen. Sie lag im Bett
und schaffte es nicht, dieses zu verlassen. Immernoch nicht. Nein. Die
Liebe war es nicht. Bei der Partnerwahl neigte sie ohnehin dazu,
Menschen mit ähnlichem Energielevel zu wählen. Man würde sich halten und
es gemeinsam nicht schaffen. Das klang schön. Irgendwie. War nur für
ihr aktuelles Dilemma nicht die Lösung. Sie wandte ihren Blick von dem
bräunlichen Paneelen-Herz ab und blickte auf die Betthälfte neben sich.
Ein geliebter Mensch hätte hier ohnehin keinen Platz. Es würde ihr dann
der Verwahrungsort für ihre ungewaschene Garderobe fehlen.
Was dann? Was brachte die Menschen aus dem Bett, unter die Dusche, an den Frühstückstisch, aus dem Haus? Geld? Karriere? Müsste sie nicht jetzt sofort aufspringen, sich in die schickste Businessgarderobe werfen und performen? Es war Sonntag. Trotzdem. Das war doch keine Ausrede nicht auch heute alles zu geben. Es fängt ja im Kopf an. Mindset. Think big. Andere Anglizismen. Sei auch an Tagen, an denen dir die Arbeit verwehrt bleibt, die Person, die es nach ganz oben schaffen wird. Raus aus dem Bett und rein ins Haifischbecken. Arbeiten. Weiterkommen. Nicht länger nur die Grundbedürfnisse decken, sondern mehr erreichen. Mehr sein als andere. Mehr haben als andere. Sich Dinge leisten, durch die andere sehen, dass man sich Dinge leisten kann. Nicht nur für sich, sondern für die Wirtschaft. Mein Gott, ja, die Wirtschaft. Es war letztlich zum Wohle aller, so sagen zumindest Manche, die in Positionen sind, wo man es wissen musste. Daher sollte sie dieses Spiel mitspielen. Musste sie doch. Oder? Das Problem war, um hierdurch Energie zu gewinnen, fehlte es ihr grundsätzlich an etwas. Dem Wunsch, solch ein Mensch sein zu wollen. Nein, nicht einmal der abstrakte Tagtraum fühlte sich erstrebenswert an, und ihre Arbeit und das Bemühen, in ihr weiterzukommen, hatte sich bislang noch nie anregend, sondern immer nur mühsam angefühlt. Sie wusste nicht einzuordnen, ob sie Ekel oder Neid empfand, wenn sie an Menschen dachte, bei denen das anders war. Nein, ihr schien auch dieser Weg als Antriebsquell verwehrt zu bleiben.
Was sonst? Altruismus? Heldentum? Raus in die Welt, um den Menschen zu helfen, denen das Schicksal übel mitgespielt hatte? Menschen, die viel mehr als sie selbst das Anrecht hatten, antriebslos und ohnmächtig zu sein. Dreist von ihr. Anmaßend, nicht glücklich und vital zu sein. Ja nun gut, das sollte sie wohl tun. Die Welt war schlecht und der Mensch egoistisch. Sie erst recht. Das sollte sie ändern und fortan alles geben, um als einzelne Person dem Elend etwas entgegenzusetzen. Das sollte sie beflügeln. Das musste sie doch beflügeln. Aus irgendeinem Grund, der sich ihr nicht offenbarte, führten diese Überlegungen nicht dazu, dass sie sich besser fühlte.
Ihr gingen die Ideen aus. Es fielen ihr nur Dinge ein, die ihr
unerreichbar, und wenn doch erreichbar, wenn doch erstrebenswert, dann
doch nicht dienlich für ihr Dilemma schienen. Zumindest nicht für diesen
Moment, da sie so dalag, immerhin inzwischen auf die Seite gerollt, und
das Muster der Raufasertapete nach weiteren Antworten absuchte.
Vergeblich.
Von den wenigen Antriebsquellen, die ihr zur Verfügung standen, entschied sie sich nach einiger Zeit für „Muss ja.“
Für den Moment genügte es. Besseres würde sie später finden, denn sie
wusste ja, dass ihr morgen der gleiche Kampf erneut bevorstehen würde.
Also. Sie atmete ein, sie atmete aus – und stand auf.
Eine großartige Leistung.
Kein Applaus.
(Entstanden für den 6. Autorenwettbewerb im Rocket Beans Community Forum zum Thema „Energie“)
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