Der Beobachter
Es hatte sich etwas verändert. Die Welt. Vor einigen Stunden hat sie noch Sinn ergeben. Aber jetzt?
Marlas Tag hatte ganz normal begonnen. Beinahe. Da war nur dieses … Gefühl. Aber nein, das war nichts. Wohl nur ein Unbehagen, das sie aus einem Traum mitgebracht hatte, an den sie sich bereits nicht mehr erinnern konnte. Nein. Es war ein normaler Morgen. Aufgestanden. Geduscht. Angezogen. Make up aufgelegt. Beim Frühstück haben Theo und sie sich darauf geeinigt, dass sie Lachsgratin zu Abend essen würden. Sie würde nach der Arbeit den Guten in der Markthalle besorgen. Nach der Arbeit.
Ein Abschiedskuss. Der kurzfristige Entschluss, das Fahrrad stehen zu lassen und zu Fuß ins Büro zu gehen. Denn sie war früh dran, hatte Zeit und wollte das Wetter genießen. Das Wetter. Es war doch sonnig. Warm. Angenehm. Normal. Alles normal. Beinahe. Nur dieses Kribbeln im Nacken.
Der Arbeitstag. Nicht stressig, nicht langweilig. Angenehmes Arbeitspensum. Keine Dramen, harmlose Lästereien in der Kaffeeküche, harmloses Flirten mit dem Kollegen aus der Personalabteilung. Pünktlicher Feierabend. Der Fußmarsch vom Büro zur Markthalle. Normal. Alles normal. Beinahe. Bis auf dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie seit einer unbestimmten Weile begleitete. Das Gefühl beobachtet zu werden. Wie ein lichtloser Scheinwerfer, der sie umgab und der sie, wenn auch nicht sichtbar, nicht fassbar, von dem Rest der Welt mehr und mehr abschirmte. Als wäre heute sie und nur sie von irgendeiner Relevanz. Als sei sie die Hauptperson, jedoch nicht in einer schönen, nicht in einer heldenhaften Geschichte. Kein gutes Gefühl. Es war schwer greifbar und unbestimmt. Und schwach genug, dass es sich abschütteln ließ. Seltsam. Aber egal. Alles normal. Beinahe. Das Gefühl kehrte nach einer Weile immer wieder zurück. Immer ein klein wenig intensiver als zuvor. Als sie die Markthalle mit dem Lachs verließ, glitt ihr Blick unwillkürlich zum Himmel. Zu der einzigen Wolke, die da über ihr am sonst blauen Himmel thronte. Eine normale Wolke doch erfüllte ihr Anblick Marla mit Entsetzen. Es war, als starrte die Wolke zurück. Knüpfte eine Bande, die mit jeder ewig dauernden Sekunde stärker und gnadenloser wurde. Stand dieses Wetterphänomen überhaupt dort oben am Himmel? War es überhaupt eine Wolke, oder war es nicht … Ja, eindeutig eine seelenlos grinsende Fratze? Ein Wesen aus einer anderen Welt, das, wenn es einmal Empfindungen wie Mitgefühl und Liebe in sich getragen hat, diese längst gegen Hass, Missgunst und Schadenfreude eingetauscht hatte. Ein Gesicht, dass sich gar nicht dort oben am Himmel befand, sondern dicht vor ihr, sodass ein eiskalter Atem Marlas ganzen Körper umhauchte und erstarren lies. Eindeutig war es diese Abscheulichkeit, die Marla doch schon seit Wochen immer wieder beobachtet hatte. Ja, wie hatte sie das vergessen können? Dieses Gesicht, das sie überall hin verfolgte und gierig begaffte. Es war zum Greifen nah und könnte jede Sekunde, wenn es nur wollte …
Nein. Die Augen einen Moment verschlossen, Schritt sie ein Stück zurück und rempelte dabei eine Passantin an, die sich darauf mit einem heiseren „Hallo! Passen Sie auf, wo sie hinlaufen!“, beschwerte.
„Entschuldigung!“
Marla war der Frau dankbar, deren Rufen sie zurückgeholt hatte. Ins Hier und jetzt. Und als sie zurück zum Himmel blickte, war da eine Wolke. Natürlich. Was auch sonst? Nur eine Wolke.
Es hatte sich etwas verändert. Die Welt. Vor einigen Sekunden hat sie noch Sinn ergeben. Aber jetzt?
Sie ging den üblichen Weg nach Hause. Abseits des Stadtkerns. Trotzdem herrschte reges Treiben und es ertönte die übliche Symphonie aus Stimmen, Schritten, Straßenverkehr, warnenden bis dezent hinweisenden Pieptönen. Dieses Geräuschemeer, das, wenn man nur lange genug in einer Stadt lebt, längst der Definition von Stille entspricht. Es war kein besonderer Punkt ihres Weges, an dem sie diese Welt verließ. Es war nur ein Schritt. Ein normaler Schritt, auf den ein weiterer folgte, jedoch … woanders. Zwischen diesen Schritten war dieser Moment, an dem eine Kraft an ihr zog. Sie emporhob, auch wenn ihr Körper danach strebte, an Ort und Stelle zu verweilen. Eine Aufzugfahrt ohne Aufzug. Eine Sekunde lang. Und der nächste Schritt trat auf den scheinbar selben Boden, doch war es nicht. Unmöglich. Sie wusste nicht, wo sie war, doch ihr Heimatort war es nicht mehr. Und doch sah alles aus wie noch eine Sekunde vorher. Nur vielleicht etwas glatter. Nebeliger. Oder war es Einbildung? Es war doch nichts geschehen. Sie war immer noch am selben Ort. Die Augen einen Moment verschlossen, trat sie einen Schritt zurück und rempelte dabei eine Passantin an, die sich darauf mit einem heiseren „Hallo! Passen Sie auf, wo sie hinlaufen!“, beschwerte.
„Entschuldigung!“
Dieselbe Frau. Dieselbe Passantin. Bestimmt. Oder? Marla hatte kein gutes Gedächtnis für Gesichter, doch Stimmen brannten sich in ihr inneres Ohr ein. Und das war dieselbe Stimme. Nicht nur die Stimme, es war dieselbe Wortwahl und Betonung. Marla starrte der Person hinterher, die nun wieder in die entgegengesetzte Richtung lief. Wo war sie überhaupt hergekommen?
Eine Stimme in Marlas Kopf warnte sie, sich nicht zu sehr umzusehen. Als sei dort eine Wahrheit, die nicht entdeckt werden wollte. „Alles Normal. Alles Normal. Deine Stadt. Nur Menschen. Schau dich nicht zu sehr um. Und blicke bloß nicht zum Himmel!“
Marla blickte zum Himmel. Die Welt um sie herum zog sich wie Wände in die Höhe, um sich dort, wo der Himmel längst begonnen haben müsste, in eine fremdartige Welt aufzutun. Und hindurch starrte sie das vertraute, fremde, weiße Gesicht an, das sie schon seit so langer Zeit, immer wieder beobachtet hatte, und dass sie immer wieder, wie war sie nur je auf so eine absurde Idee gekommen, für Wolken gehalten hatte. Es war dasselbe Gesicht. Nur noch verzerrter. Älter. Seine Konturen verschwommen mit der Umgebung, bestehend aus wabernden Formen, die sich zersetzten, auflösten, wieder zusammensetzten und so eine scheinbar unendliche groteske Masse formten.
In dem Gesicht erkannte Marla pures Entsetzen, Wahnsinn und Wut. Seine Züge bebten und waberten, als müssten sie sich anstrengen, überhaupt eine Form zu wahren, die einem lebenden Wesen noch entfernt ähnelte. Langsam wichen Wut und Entsetzen einem breiten Grinsen, das sich nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit zu einem tonlosen Lachen auftat.
Marla schaffte es endlich, ihren Blick von dem Himmel, der keiner mehr war, abzuwenden und so auch die Starre, die ihren Körper Geisel gehalten hatte abzuschütteln. Sie setzte ihren Weg fort, da es ihr an Alternativen mangelte, und an Ideen aus ihrem Käfig zu entkommen oder diesen zu begreifen. Der Weg den sie ging, bestätigte unbarmherzig, dass die Welt, in der sie sich befand, nichts mehr mit ihrem Zuhause gemein hatte. Die Straßen wiederholten sich. Kehrte sie um, lag ein anderer Weg vor ihr, als sie gerade noch beschritten hatte. Sie beschleunigte ihre Schritte. Aus Gehen wurde Laufen, aus Laufen rennen. Als könne sie so entkommen. Sie schrie, klagte, weinte, rannte, sie konnte selbst nicht sagen, wie lange, bis sie aufgab und ihren Weg trottend durch die zufälligen Wege fortsetzte, die sich vor ihr auftaten. Die Menschen, an denen sie vorbeilief, sahen mit jeder Sekunde, die man sie betrachtete, unwirklicher aus und ihr Perspektive verzerrte sich, wenn man an ihnen vorbeilief, als kämen sie der dritten Dimension nicht hinterher. Manche schienen sich überhaupt nicht von dem Gebäude abzugeben, vor dem sie standen. Ab und zu rief eine Person „Hallo! Passen Sie auf, wo sie hinlaufen!“
Die meisten aber gaben nur Töne von sich, die sich zu einem Gebrabbel zusammensetzten, das entfernt an Sprache erinnerte. Die Gefangene ging weiter. In gewissen Abständen wagte sie erneute Blicke nach oben. Ihr Beobachter blieb da. Den Blick immer auf sie gerichtet. Mal wütend, mal hämisch, mal traurig, mal gierig. Aber meistens grinsend. Mit jedem Mal wurde das Entsetzen, dass der Anblick auslöste weniger. Die gefangene Frau empfand nach einer Weile, sie wusste nicht, wie lange sie schon so umherirrte, beinahe eine gewisse Verbundenheit und Sehnsucht nach diesem einzigen Geschöpf in dieser neuen Welt, das dem Anschein nach Leben in sich trug. Was ihr auch Trost spendete, war der Verwesungsgeruch, der sich ihr irgendwann in die Nase drängte. Sie trug eine Plastiktüte mit etwas in der Hand, was wohl einmal ein Lachsfilet war. Die Tüte nässte deutlich, und das, was durch die Tropfen am Plastik vom Filet sichtbar blieb, wurde von einem grünen Pelz bedeckt. Es stank entsetzlich nach Fisch und Verwesung. Die Frau sog den Geruch in sich auf, denn es war – Geruch – eine Sinneswahrnehmung, die sie schon begonnen hatte, zu vergessen, denn ihre neue Welt war, das wurde ihr nun erst bewusst – vollkommen geruchsneutral.
Sie trottete weiter. Immer wieder nach oben zu ihrem Beobachter blickend, der mit jedem Male unmenschlicher und unwirklicher – beinahe durchsichtig zu werden schien. Sie hasste ihn. Dafür, dass er, sie konnte es sich nicht anders vorstellen, sie hergebracht hatte. Doch die Vorstellung, dass diese Fratze einmal verschwunden sein, und sie endgültig allein lassen würde, war ihr unerträglich. Irgendwann blickte sie wieder zu der Tüte in der Hand. Die Flüssigkeit verdunstet, blickte sie auf eine dunkle breiige Masse, die sich bereits durch die Tüte fraß. Obenauf der schwarze ledrige Rest einer organischen Substanz. Als sie den Blick so sinken ließ, bemerkte sie, wie der Boden unter ihren Füßen ein wenig durchsichtiger wurde. Seine Struktur flackerte. Das erste Mal seit einer Ewigkeit blieb sie stehen, sank zu Boden, drückte ihr Gesicht dicht vor die Straße und blickte durch sie hindurch hinab auf eine Welt, die ihr vertraut vorkam. Eine Welt, die sie vor langer Zeit einmal gekannt hatte. Es ähnelte dieser Welt, in der sie schon so lange wandelte, jedoch schien dort unten alles klarer, richtiger und lebendiger zu sein. Sie erblickte einen Menschen, der glücklich und unbeschwert durch das Leben schritt. Lachte, liebte, arbeitete, tanzte, stritt, lebte.
Die Wanderin, die einmal vor langer Zeit einen Namen hatte, beobachtete von da an diesen Menschen da unten immer wieder. Voller Neid, Sehnsucht, Liebe und Hass. Sie blickte nur noch selten nach oben zu ihrem Beobachter. Dieser war inzwischen nur noch in groben Umrissen zu erkennen, die sich in die wabernde Allgemeinheit dort oben mischte. Nur noch die Andeutung einer grinsenden Fratze unter zahllosen anderen grinsenden Fratzen. Nur noch ein Hauch deutlicher als der Rest.
Lieber blickte sie nach unten. Nicht länger auf ihre Plastiktüte, in der eine schwarzbräunliche Kruste daran erinnerte, dass sie einmal etwas Organisches beinhaltet hatte, nein, lieber auf ihrem Menschen. Und nach einer Weile schaute der Mensch einmal herauf und erwiderte ihren Blick. In seinem Ausdruck lagen Angst, Entsetzen, Verwirrung. Ekel? Es amüsierte sie, brachte sie zum grinsen und doch spürte sie gleichzeitig eine Sehnsucht und einen Zorn in sich auflodern. Sie wollte diesen Menschen. Sie wusste nicht wieso. Vielleicht könnten sie Plätze tauschen? Vielleicht würde sie auch einfach nur weniger allein sein in ihrer Welt. Vielleicht würde es ihr auch einfach nur Genugtuung verschaffen, diesen kleinen lächerlichen Menschen für ihr Martyrium büßen zu lassen. Sie blickte ein letztes Mal hinauf und erkannte nur noch den Hauch eines Grinsens ihres Beobachters. Dann wandte sie sich wieder nach unten, griff durch den Boden ihres Gefängnisses durch. Es funktionierte. Sie griff ihren Menschen und zog ihn hoch. Doch wurde sie im selben Moment selbst emporgedrückt und wie sie ihren Menschen losließ, und er sich in seiner neuen Welt wiederfand, glitt sie in ein Meer aus uralten Seelen und spürte bereits, wie sie ganz langsam anfing, mit ihnen zu verschmelzen. Sie blickte hinab auf ihren Menschen, der dort lächerlich panisch zappelte und nicht verstand, was mit ihm geschah. Sie beobachtete. Und grinste.
Es hatte sich etwas verändert. Die Welt. Vor einigen Ewigkeiten hat sie einmal Sinn ergeben. Und jetzt? Jetzt wieder. Nur anders. Einen neuen Sinn. Das begriff sie nun. Und das würde ihr Mensch dort unten auch irgendwann begreifen. Und die Person, die ihm folgen würde. Wie viele Ewigkeiten es wohl noch geben würde?
Marlas Tag hatte ganz normal begonnen. Beinahe. Da war nur dieses … Gefühl. Aber nein, das war nichts. Wohl nur ein Unbehagen, das sie aus einem Traum mitgebracht hatte, an den sie sich bereits nicht mehr erinnern konnte. Nein. Es war ein normaler Morgen. Aufgestanden. Geduscht. Angezogen. Make up aufgelegt. Beim Frühstück haben Theo und sie sich darauf geeinigt, dass sie Lachsgratin zu Abend essen würden. Sie würde nach der Arbeit den Guten in der Markthalle besorgen. Nach der Arbeit.
Ein Abschiedskuss. Der kurzfristige Entschluss, das Fahrrad stehen zu lassen und zu Fuß ins Büro zu gehen. Denn sie war früh dran, hatte Zeit und wollte das Wetter genießen. Das Wetter. Es war doch sonnig. Warm. Angenehm. Normal. Alles normal. Beinahe. Nur dieses Kribbeln im Nacken.
Der Arbeitstag. Nicht stressig, nicht langweilig. Angenehmes Arbeitspensum. Keine Dramen, harmlose Lästereien in der Kaffeeküche, harmloses Flirten mit dem Kollegen aus der Personalabteilung. Pünktlicher Feierabend. Der Fußmarsch vom Büro zur Markthalle. Normal. Alles normal. Beinahe. Bis auf dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie seit einer unbestimmten Weile begleitete. Das Gefühl beobachtet zu werden. Wie ein lichtloser Scheinwerfer, der sie umgab und der sie, wenn auch nicht sichtbar, nicht fassbar, von dem Rest der Welt mehr und mehr abschirmte. Als wäre heute sie und nur sie von irgendeiner Relevanz. Als sei sie die Hauptperson, jedoch nicht in einer schönen, nicht in einer heldenhaften Geschichte. Kein gutes Gefühl. Es war schwer greifbar und unbestimmt. Und schwach genug, dass es sich abschütteln ließ. Seltsam. Aber egal. Alles normal. Beinahe. Das Gefühl kehrte nach einer Weile immer wieder zurück. Immer ein klein wenig intensiver als zuvor. Als sie die Markthalle mit dem Lachs verließ, glitt ihr Blick unwillkürlich zum Himmel. Zu der einzigen Wolke, die da über ihr am sonst blauen Himmel thronte. Eine normale Wolke doch erfüllte ihr Anblick Marla mit Entsetzen. Es war, als starrte die Wolke zurück. Knüpfte eine Bande, die mit jeder ewig dauernden Sekunde stärker und gnadenloser wurde. Stand dieses Wetterphänomen überhaupt dort oben am Himmel? War es überhaupt eine Wolke, oder war es nicht … Ja, eindeutig eine seelenlos grinsende Fratze? Ein Wesen aus einer anderen Welt, das, wenn es einmal Empfindungen wie Mitgefühl und Liebe in sich getragen hat, diese längst gegen Hass, Missgunst und Schadenfreude eingetauscht hatte. Ein Gesicht, dass sich gar nicht dort oben am Himmel befand, sondern dicht vor ihr, sodass ein eiskalter Atem Marlas ganzen Körper umhauchte und erstarren lies. Eindeutig war es diese Abscheulichkeit, die Marla doch schon seit Wochen immer wieder beobachtet hatte. Ja, wie hatte sie das vergessen können? Dieses Gesicht, das sie überall hin verfolgte und gierig begaffte. Es war zum Greifen nah und könnte jede Sekunde, wenn es nur wollte …
Nein. Die Augen einen Moment verschlossen, Schritt sie ein Stück zurück und rempelte dabei eine Passantin an, die sich darauf mit einem heiseren „Hallo! Passen Sie auf, wo sie hinlaufen!“, beschwerte.
„Entschuldigung!“
Marla war der Frau dankbar, deren Rufen sie zurückgeholt hatte. Ins Hier und jetzt. Und als sie zurück zum Himmel blickte, war da eine Wolke. Natürlich. Was auch sonst? Nur eine Wolke.
Es hatte sich etwas verändert. Die Welt. Vor einigen Sekunden hat sie noch Sinn ergeben. Aber jetzt?
Sie ging den üblichen Weg nach Hause. Abseits des Stadtkerns. Trotzdem herrschte reges Treiben und es ertönte die übliche Symphonie aus Stimmen, Schritten, Straßenverkehr, warnenden bis dezent hinweisenden Pieptönen. Dieses Geräuschemeer, das, wenn man nur lange genug in einer Stadt lebt, längst der Definition von Stille entspricht. Es war kein besonderer Punkt ihres Weges, an dem sie diese Welt verließ. Es war nur ein Schritt. Ein normaler Schritt, auf den ein weiterer folgte, jedoch … woanders. Zwischen diesen Schritten war dieser Moment, an dem eine Kraft an ihr zog. Sie emporhob, auch wenn ihr Körper danach strebte, an Ort und Stelle zu verweilen. Eine Aufzugfahrt ohne Aufzug. Eine Sekunde lang. Und der nächste Schritt trat auf den scheinbar selben Boden, doch war es nicht. Unmöglich. Sie wusste nicht, wo sie war, doch ihr Heimatort war es nicht mehr. Und doch sah alles aus wie noch eine Sekunde vorher. Nur vielleicht etwas glatter. Nebeliger. Oder war es Einbildung? Es war doch nichts geschehen. Sie war immer noch am selben Ort. Die Augen einen Moment verschlossen, trat sie einen Schritt zurück und rempelte dabei eine Passantin an, die sich darauf mit einem heiseren „Hallo! Passen Sie auf, wo sie hinlaufen!“, beschwerte.
„Entschuldigung!“
Dieselbe Frau. Dieselbe Passantin. Bestimmt. Oder? Marla hatte kein gutes Gedächtnis für Gesichter, doch Stimmen brannten sich in ihr inneres Ohr ein. Und das war dieselbe Stimme. Nicht nur die Stimme, es war dieselbe Wortwahl und Betonung. Marla starrte der Person hinterher, die nun wieder in die entgegengesetzte Richtung lief. Wo war sie überhaupt hergekommen?
Eine Stimme in Marlas Kopf warnte sie, sich nicht zu sehr umzusehen. Als sei dort eine Wahrheit, die nicht entdeckt werden wollte. „Alles Normal. Alles Normal. Deine Stadt. Nur Menschen. Schau dich nicht zu sehr um. Und blicke bloß nicht zum Himmel!“
Marla blickte zum Himmel. Die Welt um sie herum zog sich wie Wände in die Höhe, um sich dort, wo der Himmel längst begonnen haben müsste, in eine fremdartige Welt aufzutun. Und hindurch starrte sie das vertraute, fremde, weiße Gesicht an, das sie schon seit so langer Zeit, immer wieder beobachtet hatte, und dass sie immer wieder, wie war sie nur je auf so eine absurde Idee gekommen, für Wolken gehalten hatte. Es war dasselbe Gesicht. Nur noch verzerrter. Älter. Seine Konturen verschwommen mit der Umgebung, bestehend aus wabernden Formen, die sich zersetzten, auflösten, wieder zusammensetzten und so eine scheinbar unendliche groteske Masse formten.
In dem Gesicht erkannte Marla pures Entsetzen, Wahnsinn und Wut. Seine Züge bebten und waberten, als müssten sie sich anstrengen, überhaupt eine Form zu wahren, die einem lebenden Wesen noch entfernt ähnelte. Langsam wichen Wut und Entsetzen einem breiten Grinsen, das sich nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit zu einem tonlosen Lachen auftat.
Marla schaffte es endlich, ihren Blick von dem Himmel, der keiner mehr war, abzuwenden und so auch die Starre, die ihren Körper Geisel gehalten hatte abzuschütteln. Sie setzte ihren Weg fort, da es ihr an Alternativen mangelte, und an Ideen aus ihrem Käfig zu entkommen oder diesen zu begreifen. Der Weg den sie ging, bestätigte unbarmherzig, dass die Welt, in der sie sich befand, nichts mehr mit ihrem Zuhause gemein hatte. Die Straßen wiederholten sich. Kehrte sie um, lag ein anderer Weg vor ihr, als sie gerade noch beschritten hatte. Sie beschleunigte ihre Schritte. Aus Gehen wurde Laufen, aus Laufen rennen. Als könne sie so entkommen. Sie schrie, klagte, weinte, rannte, sie konnte selbst nicht sagen, wie lange, bis sie aufgab und ihren Weg trottend durch die zufälligen Wege fortsetzte, die sich vor ihr auftaten. Die Menschen, an denen sie vorbeilief, sahen mit jeder Sekunde, die man sie betrachtete, unwirklicher aus und ihr Perspektive verzerrte sich, wenn man an ihnen vorbeilief, als kämen sie der dritten Dimension nicht hinterher. Manche schienen sich überhaupt nicht von dem Gebäude abzugeben, vor dem sie standen. Ab und zu rief eine Person „Hallo! Passen Sie auf, wo sie hinlaufen!“
Die meisten aber gaben nur Töne von sich, die sich zu einem Gebrabbel zusammensetzten, das entfernt an Sprache erinnerte. Die Gefangene ging weiter. In gewissen Abständen wagte sie erneute Blicke nach oben. Ihr Beobachter blieb da. Den Blick immer auf sie gerichtet. Mal wütend, mal hämisch, mal traurig, mal gierig. Aber meistens grinsend. Mit jedem Mal wurde das Entsetzen, dass der Anblick auslöste weniger. Die gefangene Frau empfand nach einer Weile, sie wusste nicht, wie lange sie schon so umherirrte, beinahe eine gewisse Verbundenheit und Sehnsucht nach diesem einzigen Geschöpf in dieser neuen Welt, das dem Anschein nach Leben in sich trug. Was ihr auch Trost spendete, war der Verwesungsgeruch, der sich ihr irgendwann in die Nase drängte. Sie trug eine Plastiktüte mit etwas in der Hand, was wohl einmal ein Lachsfilet war. Die Tüte nässte deutlich, und das, was durch die Tropfen am Plastik vom Filet sichtbar blieb, wurde von einem grünen Pelz bedeckt. Es stank entsetzlich nach Fisch und Verwesung. Die Frau sog den Geruch in sich auf, denn es war – Geruch – eine Sinneswahrnehmung, die sie schon begonnen hatte, zu vergessen, denn ihre neue Welt war, das wurde ihr nun erst bewusst – vollkommen geruchsneutral.
Sie trottete weiter. Immer wieder nach oben zu ihrem Beobachter blickend, der mit jedem Male unmenschlicher und unwirklicher – beinahe durchsichtig zu werden schien. Sie hasste ihn. Dafür, dass er, sie konnte es sich nicht anders vorstellen, sie hergebracht hatte. Doch die Vorstellung, dass diese Fratze einmal verschwunden sein, und sie endgültig allein lassen würde, war ihr unerträglich. Irgendwann blickte sie wieder zu der Tüte in der Hand. Die Flüssigkeit verdunstet, blickte sie auf eine dunkle breiige Masse, die sich bereits durch die Tüte fraß. Obenauf der schwarze ledrige Rest einer organischen Substanz. Als sie den Blick so sinken ließ, bemerkte sie, wie der Boden unter ihren Füßen ein wenig durchsichtiger wurde. Seine Struktur flackerte. Das erste Mal seit einer Ewigkeit blieb sie stehen, sank zu Boden, drückte ihr Gesicht dicht vor die Straße und blickte durch sie hindurch hinab auf eine Welt, die ihr vertraut vorkam. Eine Welt, die sie vor langer Zeit einmal gekannt hatte. Es ähnelte dieser Welt, in der sie schon so lange wandelte, jedoch schien dort unten alles klarer, richtiger und lebendiger zu sein. Sie erblickte einen Menschen, der glücklich und unbeschwert durch das Leben schritt. Lachte, liebte, arbeitete, tanzte, stritt, lebte.
Die Wanderin, die einmal vor langer Zeit einen Namen hatte, beobachtete von da an diesen Menschen da unten immer wieder. Voller Neid, Sehnsucht, Liebe und Hass. Sie blickte nur noch selten nach oben zu ihrem Beobachter. Dieser war inzwischen nur noch in groben Umrissen zu erkennen, die sich in die wabernde Allgemeinheit dort oben mischte. Nur noch die Andeutung einer grinsenden Fratze unter zahllosen anderen grinsenden Fratzen. Nur noch ein Hauch deutlicher als der Rest.
Lieber blickte sie nach unten. Nicht länger auf ihre Plastiktüte, in der eine schwarzbräunliche Kruste daran erinnerte, dass sie einmal etwas Organisches beinhaltet hatte, nein, lieber auf ihrem Menschen. Und nach einer Weile schaute der Mensch einmal herauf und erwiderte ihren Blick. In seinem Ausdruck lagen Angst, Entsetzen, Verwirrung. Ekel? Es amüsierte sie, brachte sie zum grinsen und doch spürte sie gleichzeitig eine Sehnsucht und einen Zorn in sich auflodern. Sie wollte diesen Menschen. Sie wusste nicht wieso. Vielleicht könnten sie Plätze tauschen? Vielleicht würde sie auch einfach nur weniger allein sein in ihrer Welt. Vielleicht würde es ihr auch einfach nur Genugtuung verschaffen, diesen kleinen lächerlichen Menschen für ihr Martyrium büßen zu lassen. Sie blickte ein letztes Mal hinauf und erkannte nur noch den Hauch eines Grinsens ihres Beobachters. Dann wandte sie sich wieder nach unten, griff durch den Boden ihres Gefängnisses durch. Es funktionierte. Sie griff ihren Menschen und zog ihn hoch. Doch wurde sie im selben Moment selbst emporgedrückt und wie sie ihren Menschen losließ, und er sich in seiner neuen Welt wiederfand, glitt sie in ein Meer aus uralten Seelen und spürte bereits, wie sie ganz langsam anfing, mit ihnen zu verschmelzen. Sie blickte hinab auf ihren Menschen, der dort lächerlich panisch zappelte und nicht verstand, was mit ihm geschah. Sie beobachtete. Und grinste.
Es hatte sich etwas verändert. Die Welt. Vor einigen Ewigkeiten hat sie einmal Sinn ergeben. Und jetzt? Jetzt wieder. Nur anders. Einen neuen Sinn. Das begriff sie nun. Und das würde ihr Mensch dort unten auch irgendwann begreifen. Und die Person, die ihm folgen würde. Wie viele Ewigkeiten es wohl noch geben würde?
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