Gesegneten Wein verschwendet man nicht

Ein Mann stand in der Nacht vor einer Tür, deren Anblick etwas in ihm weckte. Ohne ein Ziel, ohne einen Plan griff er nach der Klinke, drückte sie herunter und zog.
Die Tür zur Sakristei war unverschlossen. Was für ein Zufall. Oder auch nicht. Nein, eigentlich kam es immer schon sehr oft vor, dass sie nicht verriegelt war. Nicht, weil man sich hier im Ort so sehr vertraute, sondern weil die Küsterin einfach nur oft vergaß abzuschließen. Überall sonst in ihrem Leben hatte sie es immer nur mit Haustüren zu tun gehabt, die von Außen einen Knauf besaßen, mit dem man sich, wenn zugezogen, nicht so einfach Zutritt verschaffen konnte, und wenn sie auch insgesamt sehr gewissenhaft war, so hatte sie doch erhebliche Schwierigkeiten damit, sich an Dinge zu gewöhnen, die nicht ihrer gelernten Norm entsprachen. 
Früher, als Kind hatte er oft extra einen Umweg gemacht, um zu prüfen, ob die Tür abgeschlossen war. War sie es nicht, ist er mit stolzgehorsamen Eifer die zwei Straßen zum Haus der Küsterin gelaufen, um ihr darüber Bescheid zu geben. Was stets belohnt wurde. Mit einem selbstkritischen „Huch ach Mensch“, einem zwar leicht genervten, aber dennoch aufrichtigen „Danke“ und nicht selten einem Schokobonbon oder Ähnlichem. Bei der Vorstellung wurde ihm übel. Wie sein kleines Klugscheißer-Selbst da prüfte, ob alles in rechter Ordnung war, aufgeregt durchs Dorf huschte, und mit Fiepsestimme die Küsterin an ihre Pflichten erinnerte. Ekelhaft. Würde er seinem früheren Ich begegnen, er würde ihm … Nein würde er nicht. Er tut Kindern nichts an. Oder sonst jemanden. Nein. Nicht einmal, wenn man das durch etwaige Störung im Raumzeitkontinuum sogar als Selbstverletzung labeln könnte. Er versuchte die Aversion gegen seine Kinderversion zu vergessen und sich ihr gegenüber versöhnlich zu stimmen. Er sollte sich einfach darüber zu freuen, diesem Pfad des vorauseilenden Gehorsams und eines sich anbahnenden Denunziantentums später nicht weiter gefolgt zu sein. Aber mit dem Freuen war das gerade so eine Sache, die ihm allgemein nicht gut gelingen wollte. Gerade wenn es darum ging sich über seine eigene Person zu freuen. Dieses Dorf weckte einfach zu viel. 
Egal. Lustig wäre es vielleicht schon, dachte er sich, um der alten Zeiten willen – gut 30 Jahre später, nachts um 2 mit Flasche in der Hand bei ihr zu klingeln und „Frau Koll, die Kirche steht offen, wo ist meine Schokolade?“ zu rufen. Aber nein, nach ein wenig überlegen, kam er zu dem Schluss, dass es nicht lustig wäre. In der Realität zumindest nicht. Es würde einfach nur eine alte Frau zu Tode erschrecken. … 30 Jahre später. Plus Minus. Ob Frau Koll überhaupt noch die Küsterin hier war? Für sie ist ja die gleiche Menge an Jahren vergangen, und für ihn war sie damals schon alt. Nun, er war damals aber auch 10 oder so, aus seiner Sicht waren damals auch 40-Jährige schon sehr alt. Und nun steuerte er selbst auf die 40 zu. Stand kurz davor. Nun, die Küsterin wäre also heute um die 70 oder 80. Denkbar, dass sie noch aktiv war, sie hatte diesen Dienst an der Kirche immer als ihre Berufung hochgehalten. Nun war sie nunmal eine Frau womit wohl der Dienst, den sie der Kirche eigentlich gerne getan hätte, nie in Frage gekommen wäre, aber so durfte sie zumindest das Kirchengebäude verwalten und für Leib und Wohl des Priesters sorgen. Es lebe die katholische Kirche. 
„Ich hoffe, die lebt noch und der geht’s gut“, murmelte er, wohl in der Hoffnung, das möge von übermenschlichen Entitäten, an die er eigentlich gar nicht glaubte, gehört werden und sie milde stimmen, nach seinen vorangegangenen Gedankenansätzen, ein Kind und eine alte Frau zu quälen. Dann trat er durch die offene Tür in die Sakristei.
Hier hatte sich nichts verändert. Zwei schmucklose Räume. Der große Ankleideraum für die Messdiener, und offen verbunden der Vorraum zur Kirche mit allerlei wichtigem Kram. Die Bücher, die hübsche Priestergarderobe, bei deren eleganter Anmutung er sich lange die Frage gestellt hat, ob der Ausschluss von Frauen aus den hohen Ämtern der katholischen Kirche nicht vielleicht einem gewissen Neid auf Femininität oder dem, was man dieser zuschreibt, entspringt. Ein naiver Gedanke natürlich. Machterhalt und Misogynie waren da die wahrscheinlicheren Erklärungen, dachte er sich, aber der Kleid-Neid-Gedanke ließ sich so viel angenehmer denken.

Er begann, wahllos Schränke zu öffnen. Bald fand er den Messwein-Vorrat. In Tetrapacks. Erinnerte sich an seine Zeit als Messdiener. Wie der Priester nach den Messen den übriggebliebenen Wein immer in einem langen Zug gelehrt hat und erklärte, er müsse das tun, da es ein Sakrileg wäre, gesegneten Wein wegzuschütten. Mag schon sein, dass diese Begründung für den Priester stimmte, möglicherweise war der Mann aber auch einfach nur Alkoholiker. Wie sich das eben für einen ordentlichen Katholiken gehört. Das war eh ein seltsamer Mann gewesen. Vor den Messdienern immer betont hip und cool. Kam aber durchaus an. Zumindest bei den Jüngeren. Da hat man erstmal gar keine Coolness beim Klerus erwartet, so dass er schon mit dem kleinsten halblustigen Spruch durchaus punkten konnte. Dankbares Publikum. Aber zweifelhaft, ob man daran wirklich messen könnte, wie gut der Priester wirklich allgemein bei der Jugend angekommen wäre. Denn, vielleicht überrascht es den ein oder die andere, aber Messdiener sind und waren in aller Regel nicht sonderlich „Street“. 
Er nahm eines der Tetrapacks aus dem Schrank und wankte damit zu einem an der Wand hängenden Kreuz. Er nahm es ab, richtete es auf den Wein, formte in der Luft damit ein weiteres Kreuz und murmelte „In nomini patri filili spritti oder so. So. Jetzt biste gesegnet, jetzt muss ich dich trinken.“ Er öffnete die Packung und nahm einen tiefen Schluck. Lecker konnte man es nicht nennen, aber es versprach zumindest im Bezug auf das wahlweise verdrängen oder fördern dieser latenten Wut, die er seit seiner Rückkehr in das Dorf seiner Kindheit verspürte, eine gewisse Effizienz. 
Er hängte das Kreuz zurück an die Wand, betrachtete es kurz, kicherte und drehte es um 180 °. Das sollte für diesen Moment wohl genug Abrechnung mit seiner Vergangenheit sein.
Das Kreuz kippte wieder in seine alte Position. Verfluchte Physik. Er drehte es erneut, wieder hielt es nur ein paar Sekunden, was ihn wütender machte, als er es ohnehin schon war. Bei einem weiteren tiefen Schluck blickte er sich um, ob er in der tristen Räumlichkeit nicht irgendetwas zum Befestigen fände. Dass dies nicht unmittelbar gelang, kommentierte er mit einer schwungvollen Armbewegung, die er für seinem Frust angemessen hielt. Den Wein vergaß er dabei für einen Moment und vergoss große Teile von ihm über Wand und Kreuz. Er musste laut lachen. Sah blutig aus. Und es war klebrig. Er drehte das Kreuz erneut und dieses Mal hielt es. 
Doch als er fertig gelacht hatte, war auch die Genugtuung verflogen. Er betrachtete das kopfüberhängende Kreuz und fand es und sich albern. Er sollte solche Jungenstreiche lassen. Er war kein Junge mehr. Er war nun ein Mann. Es sollten richtige Männerstreiche sein. 
Aber was waren Männerstreiche? Er sah den dicken Wälzer mit dem vornehmen Einband auf dem Tisch liegen. Die Heilige Schrift. Ein guter Erwachsenenstreich wäre es vielleicht, Passagen, die oft in den Messen verlesen wurden, durch subtile atheistische Zitate großer Denker zu ersetzen. Nietzsche. Sartre. Nur hatte er gerade kein Gerät zur Textverarbeitung oder Drucker, mit passendem Papier parat, müsste geeignete Zitate, und passende zu ersetzende Stellen erst einmal recherchieren, und da dies natürlich alles recht unpraktikabel war, entschied er sich, statt dessen mit dem Kugelschreiber, der auf dem kleinen Tisch lag, viele kleine Pimmel auf die dünnen Seiten zu kritzeln. Als er befand, dass dieses Werk vollendet war, ließ er das Buch achtlos fallen und öffnete weitere Schränke und Schubladen. 
Er fand die Tüte mit Hostien. Leerte sie in das kleine Waschbecken und drehte den Hahn auf. Sobald sie alle ordentlich eingeweicht waren, hätte man so eine Art Pappmaschee und könnte damit noch etwas Schönes formen. Zum Beispiel einen kleinen Satan, der auch ein Phallus sein könnte. Er ließ den Hahn laufen, während er sich der großen Schranktür widmete, hinter der er die Messgewänder fand. Das Violette befand er am Schönsten und schlüpfte hinein. Wunderte sich, nachdem ihm das scheinbar einfach gelungen war, wieso dem Priester damals immer von der Küsterin beim Ankleiden assistiert wurde. Es ging doch ganz einfach allein. Natürlich sah er nicht, wie sich der Stoff hinten seiner Hüfte stauchte, das war aber auch egal. Dass er nun ein langes Gewand trug, etwas zu lang für ihn, vergaß er bereits einen Schritt später, stolperte und fiel vorne über. Die offene Schranktür konnte seinen Sturz nicht halten. Sie brach unter seiner Last mit einem lauten Krachen und begleitete seinen Fall zu Boden. Dabei verschüttete er den Rest des Weins. Zum Glück nicht mehr viel. Er rappelte sich lachend wieder auf und dachte, wenn der gesegnete Wein nun mal doch verschüttet wurde, ist es sicher weniger schlimm, ihn mit bestimmt auch gesegneten Messgewändern aufzuwischen. Also griff er mit breiter Umarmung auch die anderen Roben, zog und ärgerte sich, dass sie sich nicht allesamt einfach von ihren Kleiderbügeln lösen wollten. Für Feinmotorik fehlte es ihm an Willen, also zog er kräftiger, womit er letztlich nicht nur die Gewänder, sondern auch die Kleiderstange aus dem Schrank robbte. Alles viel zu Boden und überdeckte den Weinfleck. Er trat noch ein wenig auf die Stoffe und wischte mit ihnen über den Boden, dann segnete und öffnete er sich ein neues Tetrapack. 
Ein zunächst leises Plätschern im Hintergrund wurde lauter und plätschernder. Er drehte sich zum Waschbecken, das langsam überlief – die Hostien hatten wohl erfolgreich den Abfluss versiegelt.
Das Geräusch erinnerte ihn und seinen Körper an die große Menge an Flüssigkeit, die er im Laufe seines Aufenthalts in diesem Dorf zu sich genommen hatte. Er ging an der Tür zu der kleinen Toilettenkabine vorbei in das Messdiener-Ankleidezimmer und urinierte in einen der Schränke auf Talare und Chorröcke. Vielleicht würde er nach der heutigen Nacht endlich mal vergessen, wie die Bestandteile der Messdienergarderoben hießen. Wissen, das Platz für wichtigere Dinge wegnahm. 
Während er pinkelte, blickte er über die Schulter nach hinten und betrachtete sein Werk. Ging es ihm nun besser? Er hatte den Verdacht, die Erleichterung, die er gerade verspürte, ließ sich eher auf das Leeren seiner Blase zurückführen. 
Dieses Dorf weckte so viele Erinnerungen. So viel Schmerz, Angst und Enttäuschung, die er hier erlebt hatte. So vieles, was er, seit den vielen Jahren, die er nicht mehr hier lebte, versuchte, hinter sich zu lassen, und sich doch immer wieder darüber ärgerte, wie nachhaltig die Zeit ihn geprägt hatte. Der Katholizismus war da nur ein Faktor. Die Kirche mit all ihren erhobenen Zeigefingern in allen Bereichen des Lebens. Außer, wie er fand, in den richtigen Bereichen auf die Leute gerichtet, die diese Zeigefinger viel eher verdienten. Stellvertretend für alles hatte er sich hier nun gerächt. Aber an wem eigentlich? Also an wem genau? An keinem Gott, denn an so etwas glaubte er nicht. Letztlich an denen, die bald durch die Tür treten würden. An der Küsterin, die all das sauber machen musste, an dem Dorfpriester, der nun nicht zu den Amtsträgern zählte, die besonders viel Einfluss hatten, sondern der vielleicht auch einfach nur ein Mann war, der versuchte in seiner kleinen Gemeinde einen möglichst guten Job zu erledigen. Und an Messdienern. An Kindern, deren naiver Glaube sie noch nicht hatte zu Zynikern werden lassen. Noch nicht. Letztlich das. Er hatte die Geister seiner Vergangenheit nicht vertrieben, sondern nur den Menschen geschadet, denen es im katholischen Glauben tatsächlich um den Aspekt der Nächstenliebe ging. Mit einem Mal überkam ihm schreckliche Reue. Sie quälte ihn so sehr, dass es ihm beinahe schmerzte, und er wusste nicht, wohin mit diesem Empfinden.
Mit gesenktem Blick drehte er sich und benetzte dabei mit den letzten Tropfen seines Strahls ein paar Lackschuhe. Als er den Blick hob, bemerkte er, dass diese Schuhe zu Priester gehörten, der in der offenen Tür stand und ihm mit offenem Mund und bleichem Gesicht anstarrte.
„Dass trifft sich perfekt, dass sie hier sind“, begrüßte er den Würdenträger, „ich würde gerne die Beichte ablegen.“



Entstanden für die 20. Ausgabe von „Deis und Ella lesen Dinge vor“ #LesiDinge

Thema: Sakristei

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