Kaulquappe


 

 Er schwamm. Immer schon. Kannte nichts anderes. Bewegte sich sachte in der ihn umgebenden Flüssigkeit hin und her, soweit der begrenzte Raum es zuließ. So war es immer schon gewesen. Aber was war dieses „immer schon“, bzw. wie lange? Hatte es schonmal ein „immer schon“ gegeben? Zum Beispiel gerade eben noch? Vor Kurzem? Da war doch noch alles anders gewesen, oder? War da nicht irgendwas, das er vergessen, oder falsch in Erinnerung hatte? Es war ihm, als sei er eben noch nicht diese Kaulquappe gewesen, die im engen Raum umher schwamm und sonst nichts tat. Er erinnerte sich dunkel an ausufernde Extremitäten an seinem ohnehin viel stabileren Körper. Er hatte das Gefühl, sonst war da mehr „Außen“ gewesen. Ein Boden. Und etwas anderes, als diese Flüssigkeit, die ihn umgab. Schwer zu beschreiben, was es war – eben einfach das Fehlen der Flüssigkeit. Und was hörte er? Er glaubte, auch vorher Dinge gehört zu haben, aber anders. Unterscheidbarer. Lauter. Konkreter. Nicht dieses endlose Rauschen und Brummen und Dröhnen. Und waren da nicht auch andere Wahrnehmungen gewesen, als Flüssigkeit fühlen und Dröhnen hören? Er glaubte schon, aber irgendwie schien ihm diese Vorstellung auch überwältigend. Beinahe außerhalb seiner Vorstellungskraft, aber eben auch nur beinahe. Denn irgendwie, war da doch mal etwas gewesen. 
Er schwappte etwas nach links und rechts, wackelte mit den stummeligen Fleischzäpfchen, die ihm vom Leibe abstanden, und berührte mit einem von ihnen die Außenwand, die ihn von allen Seiten eng umgab. Sie war weich. Ließ sich sogar ein wenig nach vorne drücken, wodurch sich zu dem durchgängigen Grundrauschen nun noch ein höher frequentiertes Dröhnen gesellte. Dann schien irgendetwas von außen seinem Drücken gegenzuhalten. Spannend. Ein bisschen lustig auch. Das würde er wohl zukünftig öfter mal machen, denn ansonsten gab es hier allen Anschein nach recht wenig zu tun und jeder braucht ein Hobby. So sagt man doch, oder? Wer sagt das eigentlich? Hobbys. War da nicht auch mal etwas gewesen? Hatte er nicht irgendwas getan, einst, als er stabiler und insgesamt einfach „mehr“ war? Irgendetwas mit einer Substanz, die sich von dem aktuell ausschließlich vorhandenen „flüssig“ und „weich“ unterschieden hatte. Fest war es auch nicht. Woher wusste er überhaupt, was „fest“ war? Es war etwas mit unzählbar vielen kleinen Einheiten. Die für sich selbst gesehen, jedes im Einzelnen durchaus fest waren, doch in Summe wie diese winzig kleinen Festigkeiten da zusammenkamen, eben doch nicht. Eher locker. Pulvrig? Was war dieses Zeug gleich gewesen? Er mochte es. Und nicht. Es hatte einen Haken. Aber es war ein Hobby. Glaubte er. Was war es gleich, was er irgendwann, irgendwo einmal gemacht hatte?
„Gekokst.“,
was?
„Du hast gekokst“, wiederholte die Stimme in seinem Kopf, „du weißt schon. Kokain. Drogen. Du bist dabei am Ende nicht mehr sonderlich klug vorgegangen. Hat dich umgebracht. Naja.“
Er war verwirrt. Was hörte er da? Wessen Stimme war es, die in seinen Gedanken widerhallte?
„Deine Fähigkeit, Gedanken zu ordnen und klar zu verbalisieren wird bald zurück sein. Aber bis dahin kann ich deine Empfindungen auch so ganz gut deuten. Ich habe da Erfahrung. Mache diesen Job schließlich schon eine Ewigkeit und, nun, nimms nicht persönlich, aber allzu komplex sind deine Gedanken auch nicht.“
„Hey“,
„Na siehst du, da war doch schon ein ausformulierter Gedanke. Kurz, aber immerhin. Gibt es denn von deiner Seite aus Fragen bis hier hin?“
„Was … wer …“,
„Wer du, oder wer ich? Also wer du bist … Einmal bist du eine Person, die erst noch werden wird. Wer das sein wird, kann ich dir nicht sagen, das wird sich noch zeigen. Und auf der anderen Seite, also, wer du warst: Ein Mann, der sich, wie ich das meinen Unterlagen entnehme, für so ziemlich unsterblich gehalten hat. Hast am Ende eine Line zu viel gezogen. Ich glaube, so sagt man. Ich bin da nicht so drin, mir fehlt der Körper zum Koksen. Jedenfalls war deine Nase ganz verstopft und du warst in Handschellen. Also konntest du dich von dem Knebel in deinem Mund nicht befreien. Du wurdest wohl, nehme ich an, gekidnappt.“
Neben der Stimme hörte er nun auch das Geräusch von Umblättern in Papieren. Er wusste plötzlich wieder, wie es sich anhörte, wenn man in Papieren blätterte. Und was Papiere waren. Dann kehrte die Stimme zurück.
„Ach nein, mein Fehler. Kein Kidnapping. Das war wohl alles freiwillig. Aber die Dame, deren Dienste du da in Anspruch genommen hattest, während deiner letzten kleinen Privatfeier, war … nun … unpässlich und konnte dir ebenfalls nicht helfen. Keine Sorge, ihr geht es gut, sie ist nur noch ziemlich geschockt, aber das wird schon wieder. Aber du, naja tja, konntest dann eben etwas zu lange nicht atmen. Tja, macht man nichts. Was den Rest deines einstigen Ichs betrifft, da brauche ich dir gar nicht groß viel zu erzählen. Einiges wirst du nach und nach selbst wieder wissen, dann aber bald auch wieder vergessen. Kommen wir lieber zu dem ,wer ich’. Ich übernehme deine Seeleneinweisung. Spreche zu dir, um Unklarheiten zu beseitigen, die Situation zu erklären, solche Sachen. Deine Reinkarnations-Sachbearbeitung, oder, wie ich es ganz gerne selbst bezeichne: Dein persönliches Plazentagespenst, haha.“,
„Was?“
„Nun. Dein Humor, sofern vorhanden war, ist wohl noch nicht ganz angekommen. Egal. Also noch einmal zusammengefasst: Du bist gestorben, hast dich für Reinkarnation, und somit gegen die endgültige Seelenverpuffung entschieden und wurdest im Büro der Seelenneuzuordnung diesem Fötus zugewiesen.“
„Ich“
„Ich weiß, dass das alles recht verwirrend sein muss. Du bist durch den Prozess der Seelennullung gewandert, das war nötig, um dein nächstes Leben schön unvoreingenommen und neutral beginnen zu können. Also naja, zumindest ohne zusätzliche innere Beeinflussungen deines einstigen Ichs. Da wäre natürlich trotzdem noch sozialer Stand und … egal. Das führt zu weit. Jedenfalls, ja, deine Seele wurde erfolgreich genullt, aber ein wenig klingen die Erinnerungen bis zu deiner Geburt noch nach. Das ist ganz normal. Es gibt dir noch etwas Zeit, in Erinnerungen zu schwelgen, nochmal ein Fazit zu ziehen, oder mehrere … gibt es einen Plural von Fazit? Fazits? Fazite? Fazen? Egal. Jedenfalls, du hast noch Monate Zeit, bis zu deinem Neustart. Und wenn in dieser Zeit Fragen auftauchen, ich bin hier. Dein …“,
„Plazentagespenst …“,
„Haha, ja genau.“

Für den Moment hatte er keine Fragen. Oder keine, die sich sinnvoll formulieren ließen. Wenngleich er das Gefühl hatte, mit jedem Moment, kehrte mehr seines einstigen Wortschatzes zu ihm zurück. Und mit ihm, mehr seines Lebens. 
Er war bald schon nicht länger nur eine verwirrte, nichtswissende Kaulquappe. Er war jemand gewesen. Zwar nicht ganz eindeutig, aber doch eindrücklich erinnerte er sich mit der Zeit immer mehr, was für ein Leben da mal war, aus dem er viel zu früh gerissen wurde. Wie gut ihm all die maßgeschneiderten Anzüge gestanden hatten. Wie schön sich sein Aktenkoffer angefühlt hatte. Wie wenig Akten sich darin befunden hatten und wie wichtig es ihn trotzdem hatte erscheinen lassen, einen Aktenkoffer zu halten. All das Geld, das er hatte, all die Frauen, all die Parties. Kobe-Steaks mit Blattgoldverzierung, Geschäftsreisen in erster Klasse, Hotelsuites mit Nuttenservice. Alles auf Spesen. Die Erinnerungen prasselten auf ihn ein, wie konnte er all das vergessen haben? Ein fantastisches Leben, fantastische Erfolge. Welch eine Verschwendung, dass es so früh hatte enden müssen. Er genoss das schwelgen in den Erinnerungen. Verbrachte viel Zeit damit, die Revue in seinem Kopf zu zelebrieren, die ihm präsentierte, was er alles war. 
„Ich war geil.“
„Was, hm? Wie bitte? Oh, entschuldige. Du warst so lange still, ich dachte schon, du hättest gar keinen Redebedarf. Kommt nicht oft vor, aber kommt vor. Kann ich dir irgendwie weiterhelfen? Hast du nun Fragen?“
„Weißt du“, sagte er mit stolzgeschwollener Brust-in-Spe, „Ich hätte noch verflucht viel erreichen können. Ich war wirklich auf dem besten Weg. Aber auch so hatte ich schon mehr im Leben, als viele faule Leute jemals haben werden. Weil die einfach nichts checken.“,
„Ah okay, keine Fragen, nur Redebedarf, nun von mir aus“,
„Ich habe mir das alles selbst aufgebaut. Das ist es, was die ganzen Neider nie verstanden haben. Wie viel harte Arbeit das war, das alles …“, 
„Hier steht, du bist in das Unternehmen deines Vaters eingestiegen und hast sehr viel geerbt“,
„Ja, okay, ich hatte ein gewisses Startkapital. Mehr nicht. Aber das muss man ja auch erstmal zu nutzen wissen. Ich hätte es auch ohne geschafft. Ich habe schon jung das Wichtigste gelernt um …“,
„Achja, auf dieser Privatschule, richtig?“
„Nein Mann, das Wichtigste habe ich mir selbst beigebracht. Ich habe schon früh gecheckt, worauf es ankommt.“
„Worauf?“,
„Schau mich an, was ich erreicht habe. Darauf.“
„Also viel zu erreichen? Für was jetzt genau? In meinen Unterlagen steht, dass du dich nicht unbedingt glücklich gefühlt hast.“
„Natürlich habe ich das. Oder ich war auf dem besten Weg dahin. Ich war unter Strom. Immer. Ich war erfolgreich. Auf dem Weg zur Spitze. Weißt du, was das für ein Gefühl ist, wenn du den Geschmack einer Zigarre mit einem 50 jährigen Scotch runterspülst, eine Nutte gerade deinen Schwanz lutscht, während du unterzeichnest, dass die Produktion deiner Firma in noch billigere Länder wandert, was dir nochmal fettere Kohle einbringen wird?“
„Nein, das weiß ich nicht. Ich bin eine sprechende Plazenta.“
„Es ist ein geiles Gefühl“,
„Okay. Notiert.“
„Also … du beantwortest meine Fragen, richtig?“
„Ja, das ist mein Job.“
„Wer sind meine neuen Eltern? Was sind ihre Jobs? Sind sie wichtige Leute? Wo werde ich aufwachsen? Wie werde ich aussehen?“
„Hm, Mittelstand, mittelreiches Land, und durchschnittlich.“
„Du scheinst ja nicht so gesprächig zu sein, wie letztes Mal,“
„Harter Arbeitstag.“
„Naja, also … Es muss doch irgendwie die Möglichkeit geben, dass ich doch etwas von meinen Erinnerungen behalte. All das, was ich gelernt habe, das muss ich doch irgendwie weitergeben können. Das würde meinem neuen Ich so sehr helfen. Gibt es nicht irgendwie die Möglichkeit …“
„Nein.“,
„Gar nichts? Alles, was ich erreicht habe, das kann doch nicht umsonst gewesen sein!“,
„hmmm“,
„Verschweigst du mir was? Ist das nicht dein fucking Job, ehrlich zu mir zu sein?“
„Also nun gut. Wenn du es unbedingt wissen willst: Da geht nicht viel. Du kannst versuchen, an den für dich wichtigsten Werten festzuhalten, die Erinnerungen zu bewahren und eine gewisse Botschaft mitzunehmen. Aber du kannst nicht viel behalten. Ein paar Worte. Mehr nicht. Konzentriere dich auf das, was dir am wichtigsten ist.“
„Ich schaffe bestimmt mehr. Ich habe alles im Kopf, also wenn ich mich nur genau drauf konzentriere … “,
„Ein paar Worte, vertrau mir. Mehr wirst du dir nicht merken. Das schafft niemand.“
„Du hast mich noch nicht kennengelernt“,
„Doch. Also nicht dich speziell aber … nun, ich mache diesen Job eben schon wirklich eine ganze Weile und …“
„Ich schaffe das. Ich vergesse nichts.“
„Was warst du genau von Beruf?“
„Na …“, er überlegte. Gerade hatte er es noch gewusst. „Mein Job war fucking krass“,
„Ohja, jetzt bin ich überzeugt. Wie war dein Name?“,
„Der … Ach ist doch egal – das Wichtige merke ich mir. Ich werde mir beibringen, wie ich mein Werk weiterführen kann. Das Performer-Milleu hat bald seinen besten Bro zurück.“
„Bro … von Bruder, richtig? Wie männlich? Naja, kann schon sein, man wird dir bei Geburt aber wohl erstmal was anderes zuweisen.“
„Fuck, echt? Naja, wird schon trotzdem irgendwie werden. Dann muss ich mich Erstrecht konzentrieren, dass ich mir möglichst viel erklären kann.“
„Ach herrje.“

Und voller Zuversicht konzentrierte er sich auf all seine Tricks, all seine Karriereschritte, all seine rhetorischen Künste und Methoden, die Dinge zu bekommen, die er wollte. Doch er merkte bald, dass eintraf, wovor er gewarnt wurde. Je mehr Zeit verstrich, desto blasser wurden seine Erinnerungen. Wenn er sich auf eine Sache konzentrierte, entglitt ihm eine Andere. Es war mühsam, all das zu behalten, was er mitnehmen wollte. Hatte das Plazentagespenst am Ende recht, und mehr als zwei bis drei Worte konnten es nicht werden? Er fragte sich, welche er mitgeben würde. Hustle, Geld, Mindset? Würde das reichen? Nein, er wollte sich gar nicht erst mit diesem Notplan abfinden, denn er würde mehr schaffen. Wenn er sich nur … 
Irgendwann wurde es lauter. Unruhiger. Das Wasser, in dem er schwamm, oder inzwischen eigentlich eher sehr beengt lag, wurde weniger. 
„Nun, wir müssen uns wohl langsam voneinander verabschieden“, sprach die Plazenta, „es war mir eine … nun … es war was.“
„Moment, ich … halts Maul, ich hab noch alles im Kopf. Ich nehme es mit.“
„Jaja, viel Erfolg dabei.“
Er spürte, er musste letzte konkrete Tipps ausformulieren. Er musste kürzer treten, als er dachte. Weil dieses labernde Gespenst ihn ständig abgelenkt hat, sagte er sich. Er spürte Druck auf seinem ganzen, inzwischen recht stabilen Körper. Er zog an ihm. Seine Gedanken wollten dem Sog nach draußen folgen und die Erinnerungen an sein altes Leben waren kaum noch greifbar. Die Anstrengungen brachten ihn an den Rand der Verzweiflung. 
„Das kann doch nicht sein – alles, was ich gelernt habe, soll verschwinden? Ich muss mir doch irgendwie mehr helfen können. Da waren so viele Tricks, ich kann so viel weitergeben. Ich kann ihr – mir – helfen an Dings, wie hieß das noch? Geld. Geld und Macht zu kommen. Erfolgreich zu werden. Bewundert zu werden. Fucking reich zu werden. Ich brauche mehr als ein paar Worte. Ich muss mir Anleitungen hinterlassen. Das muss doch irgendwie gehen.“
„unterschätze die Macht der nachklingenden Worte nicht. Auch wenige können großen Einfluss haben.“
Es wurde lauter. Der Sog stärker. Er verlor immer mehr der ohnehin wenig übrig gebliebenen Erinnerungen. Was war nochmal ein Aktenkoffer? Worin hatte er noch gleich investiert … was bedeutete noch gleich ,investiert’? 
„Nein, mein Image, die Macht. So viel erarbeitet. Das soll jetzt alles verschwinden?“
„Nicht ganz. Etwas kannst du dir noch mitgeben. Ein paar Worte. Kleine Suggestionen. Aber du solltest dich langsam beeilen, denn …“
„… ich“, schrie er sein Leid hinaus, „verliere jetzt einfach alles, was ich liebe, das ist doch nicht fair. Ich war groß. Ich hatte Mut nach ganz oben …“,
„Okay, das war’s, mehr Zeit haben wir nicht, tut mir leid, viel Erfolg!“
Und dann war er nichts mehr. Und doch viel. Er schwamm nicht mehr. Seine letzten Erinnerungen glitten davon und alles, was jetzt war, war Helligkeit. Kälte, Eindrücke. Stress. Das Fehlen von Flüssigkeit. Hände. Stimmen. Er schrie. Da waren keine Gedanken. Nur Empfindungen. Es war einfach alles viel. Zunächst. Doch bald machten sich Frieden und Glückseligkeit in ihm breit, als er die Wärme eines Körpers spürte, der nicht der Eigene war. Eine vertraute Beschützerin, in deren Arme er gelegt wurde. Tröstend und heilsam. Und er nahm das Leben an. Das war es. Viel mehr war er in diesem Moment nicht. Nur ein paar Begriffe hallten in seinem Kopf nach. Sie würden ihn in seinem neuen Leben begleiten und lenken. Ihn ein stückweit zu dem Menschen machen, der er sein wird. 

„Liebe.
Fair.
Großmut.“

Es würde ein gutes Leben werden. 



Entstanden für die 19. Ausgabe von „Deis und Ella lesen Dinge vor“ #LesiDinge

Thema: Schwimmen

auf twitch.tv/hirnbraten könnt ihr euch noch ein Weilchen das VOD anschauen


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