Was guckt der so?

Heute ist so ein Tag, an dem man einfach nicht will, ohne, dass sich genauer definieren ließe, was es denn eigentlich ist, was man nicht will. Man will aber nicht. Und bepackt mit einem besonders schwerwiegenden Haufen universellem Nichtwollens sitze ich in der Bahn und verarbeite die letzten Auswirkungen eines Katers. Das ärgert mich besonders, da es ja nun schon anderthalb Tage her ist, seit ich Alkohol getrunken habe und meinem Empfinden nach war es nicht mal sonderlich viel. Zwei Flaschen Bier. Und eine Flasche Wein. Aber offensichtlich bewahrheitet sich die bereits von Anderen schon oft erlangte Erkenntnis auch in meinem Falle und auch ich werde nicht jünger. Und so sitze ich nun also verkatert mit der Aussicht auf acht Stunden monotoner Schreibtischarbeit neben der übermotivierten Kollegin, der die Arbeit enorm wichtig ist, und die dabei nicht realisiert, wie überaus irrelevant unser Job ist und ich sage zu mir: „Ich hasse Montage!“.
Das Verlangen mich dafür selbst zu ohrfeigen folgt unmittelbar, denn dieses ausgelutschte Garfieldzitat sollte eigentlich nur von Kalendersprüche-als-Whatsapp-Status-Postern verwendet werden und so möchte ich nicht enden. Denn von da an ist es nur noch ein kurzer Weg eine Person zu werden, die auch glaubt mit Zitaten aus „der kleine Prinz“ die Lebenskrisen irgendwelcher Leute beenden zu können.
Ich! Hasse! Montage!
Ich schaue mich um, um zu überprüfen, ob ich die einzige Person bin, die das Leben gerade nur widerwillig erträgt und komme zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall zu sein scheint, denn ich sehe eine ganze Wagenladung missgelaunter Gesichter. Mein Blick bleibt an einem Mann heften, der ein Stück weiter im Türbereich steht, und dessen griesgrämiger, ja, beinahe wütender Gesichtsausdruck offensichtlich mir gilt. Er starrt mich völlig ungeniert an und wendet sich auch dann nicht ab, als ich seinen Blick für einige Sekunden mit gleicher Missbilligung erwidere, was in der Regel dazu führt, dass ein starrendes Gegenüber ertappt woanders hinschaut. Nicht aber dieser Mann. Dieser Mann starrt einfach weiter und ich frage mich: Was guckt der so? Was guckt der mich so an? Wie dreist kann man sein und hat der etwa gerade ganz leicht den Kopf geschüttelt? Was stimmt nicht mit diesem Typen? Was will er mir sagen? Starrt mich voller Verachtung an. Etwa weil ich einen Sitzplatz habe, während er steht? Obwohl ich jung bin und er alt ist? Alter, mach mal halblang. Erstens sind hier noch genug Plätze frei und ich sehe definitiv nicht ein, meinen Platz zu räumen, während die Trulla im Vierer gegenüber meint, ihre kackhässliche Handtasche habe eher einen Sitzplatz verdient, als irgendwelche Leute. Zweitens bist du vielleicht alt, jetzt so alt aber auch wieder nicht. Vielleicht Mitte/Ende Sechzig oder so, da kann man ja wohl noch mal zwei Stationen stehen, ohne deswegen gleich die Leute mit vorwurfsvollem Blick zu strafen. Jaja, aber dann bestimmt einen Aufstand machen, wenn man einen Platz angeboten bekommt, weil man dann ja von mir unverschämter Generation Y-Ische als „Opa“ abgestempelt wurde, ne?
Alter, was guckst du so? Stört es dich etwa, dass ich nicht lächle? Dass es mir zu anstrengend ist, mir ein freundliches Grinsen aufzuzwingen, was ich aber dringend tun sollte, weil Frauen deiner Meinung nach immer nett auszusehen haben und sonst nichts weiter leisten können, du verkackter Sexist? Und nicht einmal dieser Aufgabe werde ich gerecht, oder was? Arschloch! Ich sitze nicht zu deiner verschissenen Belustigung in dieser Bahn, sondern weil ich auf dem Weg bin, DEINE bekackte Rente zu verdienen. Ich bin nämlich gar nicht so jung, wie du denkst. Denkst du doch, oder? „Nününü, die scheiß Jugend von heute – sitzt da und lächelt nicht – Wää, ich bin alt, guckt mich an!“
Ich bin aber zufälligerweise schon Anfang dreißig. Was sagst du dazu? Ja, ich kann nichts dafür, dass ich mit der Fresse eines vorpubertierenden Moppeljungen rumlaufen muss. Ich habe mir dieses Gesicht nicht ausgesucht, aber selbst wenn ich wirklich so jung wäre, das gäbe dir noch lange nicht das Recht, mich so anzustarren, weil „jung sein“ in deinen Augen eine Art Verbrechen ist. Blöder Wichser! Was zum Teufel guckst du so? Dass ich heute nicht in Topform bin weiß ich auch ohne dein penetrantes Gegaffe. Besser habe ich meine Haare eben heute Morgen auf die Schnelle nicht hinbekommen und ja, du Missgeburt, tut mir Leid, dass ich es bei all meiner offensichtlichen Unfähigkeiten, die du hier gerade mit Blicken strafst, nichtmal schaffe, für irgendwelche Fremde, unverschämte Glotzer möglichst hübsch auszusehen. Denkst du, das ist meine Aufgabe? Für dreiste Mistgaffer gut aussehen?
Jetzt hör doch mal auf so zu glotzen! Denkst du, ich wüsste nicht längst selbst, dass ich das ein oder andere Pfund zuviel auf den Hüften habe? Hast du dir mal deine eigene Bierplauze angeschaut, du Penner?
Alter, der guckt immer noch so. Was zum verkackten Dreckswichs guckt der Ficker so? Willst DU mir auch noch sagen, dass ich mich nicht so anstellen soll? Als ob du wüsstest, was ich so für Baustellen habe. Solange du keine anderen Probleme hast, als dich hier über Leute zu empören, deren Background du überhaupt nicht kennst, beneide ich dich ehrlich um dein scheiß geiles Leben. Geh DU doch in den unterbezahlten und absolut sinnbefreiten Scheißjob und lass dir nach Feierabend von deiner Mutter erzählen, was du für eine Enttäuschung bist und auf was sie alles meinet-, ehm, deinetwegen verzichten musste. Am Ende des Telefonats fragt sie dann noch, warum du dich eigentlich so selten meldest. Hm, ja komisch, warum wohl?
Guck nicht so, scheiß Boomer. Du willst mir sagen, dass meine Mutter mit all dem schon recht hat, oder? Sieht man mir doch an, dass ich nichts von dem, was ich so anpacke wirklich gut meistere. Ich weiß, dass ich nichts kann, du kannst also aufhören mich so anzugucken! Jaja, du hast bestimmt dein Abi ohne Ehrenrunde mit fucking Einserschnitt abgeschlossen, oder hattest, oder hast vielleicht sogar noch, einen sinnstiftenden und erfüllenden Job und was weiß ich nicht noch alles. Aber weißt du, was ich dafür habe und du offenbar nicht? Manieren! Weil, wenn man auch nur den minimalsten Fick auf Manieren gibt, dann guckt man die Leute nicht so an, auch wenn es sich dabei um so faule, fette, hässliche, ungeliebte Scheißopfer handelt, wie mich. Also hör auf so zu gucken!

Meine Haltestelle wird angesagt. Ich atme tief durch, was meinen Ärger über den verfickten Glotztypen nicht mindert. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der Bahntür, neben der dieser Gucker steht, der noch immer in meine Richtung starrt. Ich beschließe mir ein Stück Gerechtigkeit zu holen. Einen kleinen Sieg. Eine kleine Retourkutsche. Sowie ich die Bahn an dem Spacken vorbei verlassen werde, werde ich ihm noch einen vernichtenden Blick und ein stolzes Kopfschütteln schenken. Ich werde „Tzzz“ machen. Oder doch lieber „Pff..“? Ja, „Pff“ ist besser.
Ich komme dem Penner Schritt für Schritt näher und bekomme mehr und mehr von ihm zu sehen, was mir zunächst mit großer Genugtuung die Bestätigung einbringt, dass er wirklich einen ganz beachtlichen Bierbauch vor sich herträgt. Finde ich eigentlich überhaupt nicht schlimm, aber wenn der mich für meine Hässlichkeit mit Blicken straft, ist es nur fair, wenn ich seine Wampe belächle.
Ich mustere ihn nun mit genüsslicher Verachtung und bemühe mich dabei, einen maximal missbilligenden Blick zu behalten. Ich starre auf seine Schuhe, betrachte die arschhässliche Hose, wobei ich mir im Nachhinein noch überlegen werde, was an dieser hässlich ist, das ungebügelte Hemd, die altbackene Armbanduhr an der rechten Hand und die grottenhässliche gelbe Binde mit den drei schwarzen Punkten um seinen linken Oberarm…

Oh.

Kleinlaut gehe ich an dem Mann vorbei, dessen Augen auch danach noch auf den Platz gerichtet sind, auf dem ich gesessen habe, und verlasse die Bahn. Wenn ich die Hitze in meinem Gesicht richtig deute, ist dieses aktuell Tomatenrot, was den Herren aber vermutlich auch nicht weiter stört. Während ich mich also auf den Weg vom Bahnhof ins Büro mache, ermahne ich mich selbst, die Leute nicht so vorschnell zu verurteilen.
Und was vielleicht noch wichtiger ist: Ich nehme mir vor, mein Selbstbild zu überdenken, denn wenn diese vernichtenden Urteile über mich gar nicht von dem Gucker kamen, dann wohl … Nunja.

–Ende–

Hier noch das Lied zum Text.



Und noch der Hinweis: Diese Geschichte, auch wenn sie auf wahren Begebenheiten beruht, ist rein fiktional. Meine Mama hat mich lieb.

Kommentare

  1. Wie ich einfach emotional mitgeschwungen wurde und selber wütend über den "Gaffer" war. Gut gemacht <3

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was auch immer uns antreibt

Kaulquappe

Der Beobachter