Möwenschreie

Eigentlich habe ich diesen Blog für lustige und unterhaltsame Kurzgeschichten vorgesehen, die vielleicht zwar zum Nachdenken anregen, den Leser aber mit einem positiven Gefühl entlassen. Deshalb habe ich diese Geschichte, die ich im Oktober 2017 geschrieben habe, hier nie veröffentlich. Das hole ich nun nach. Erstens, weil ich finde, dass sie gut geworden ist und ich es eigentlich schade fände, sie niemals zu veröffentlichen, Zweitens, weil sie ein Thema behandelt, das, wie ich befürchte, in diesen Zeiten so aktuell ist, wie vielleicht nie zuvor. Vielen Dank fürs Lesen! 
Triggerwarnung: Häusliche Gewalt, Suizid
Als die Möwenschar schreiend über die Stadt zog, öffnete Frau Hoever ihr Küchenfenster und blickte selig in die Ferne. Auf dem flachen Dach des Hochhauses gegenüber landete ein gutes Dutzend der Vögel. Frau Hoever lachte bei deren Anblick, wie sie dort auf dem Dach herumspazierten.
Möwen sehen, wenn sie zu Fuß unterwegs sind, oft aus, als hätten sie etwas zu verbergen. Wie sie so gradlinig mit kleinen flinken Schritten ihres Weges marschieren und den Blick dabei hektisch von links nach rechts wandern lassen, als vergewisserten sie sich, dass ihnen niemand auf die Schliche käme. Zudem erinnern die Flügel, wenn sie so eng am Körper liegen, an Hände, die angespannt in Hosentaschen stecken, um trotz des unreinen Gewissens eine unauffällige und unschuldige Körperhaltung an den Tag zu legen.
Hab gar nichts gemacht, hab gar nichts gesehen, bin unschuldig!“, quiekte Frau Hoever, als sie amüsiert kichernd den hektischen Blick der Möwen nachäffte. Schließlich seufzte sie und sagte zum Sonnenuntergang: „Solange nur die Möwen etwas zu verbergen haben, bin ich der seligste Mensch auf Erden.“
Ein plötzliches Poltern, gefolgt von einer wütenden Männerstimme, drang wie so oft an ihre Ohren. Durch die Wand gefiltert schrumpfte die wütende Stimme ihres Nachbarn auf ein dumpfes Murmeln zusammen. Die Worte verstand Frau Hoever nicht. Sie hätte es aber ohnehin unhöflich gefunden, den Gesprächen ihrer Nachbarn zu lauschen. „Ach, Mensch, was zankt sich das Paar von nebenan denn schon wieder, an so einem schönen Abend?“, ärgerte sie sich und ging nach nebenan in ihr Schlafzimmer, wo die Unstimmigkeiten der Liebenden ihren Feierabend nicht weiter störten. Sie öffnete auch hier das Fenster und beobachtete, wie sich die Möwen nach ihrer Rast wieder erhoben und ihr Geschrei den Himmel erfüllte. „Manchmal“, murmelte Frau Hoever nachdenklich, „klingt der Möwenchors, wie Schreie einer Frau.“
Sie verdrängte dieses düstere Bild, schloss die Tür zum Nebenzimmer und sagte lächelnd durchs Fenster zur kühlen Abendluft: „Solange nur die Möwen schreien, bin ich der seligste Mensch auf Erden!“.
Als Frau Hoever am nächsten Morgen ihre Wohnung verließ, um sich bei dem Kiosk gegenüber ihr Fischbrötchen und ihren Kaffee zu holen, stieg ihr im Etagenflur der süßliche und zugleich beißende Geruch gegorener Früchte in die Nase, und als sie an der Nachbarwohnung vorbeiging, lösten sich ihre Filzschuhe nur noch widerwillig mit einem hässlichen Reiß-Geräusch von dem klebrigen Boden, der Frau Hoever nicht loslassen zu wollen schien. An der Wand im Hausflur, gleich neben der Tür, des jungen benachbarten Paares, war ein großer nasser Fleck. Auf dem Boden darunter hatte sich eine Pfütze gebildet, in der Scherben einer Obstbrandflasche verteilt lagen. „Hach, dieser Tollpatsch schon wieder“, kommentierte Frau Hoever das Missgeschick ihres jungen, immer ein wenig grimmig hereinschauenden Nachbarn „Gott sei Dank war die Flasche wohl nicht mehr allzu voll gewesen, sonst wäre jetzt sicher der komplette Flur verklebt.
Ihr war, als hörte sie etwas. Ein helles, zitterndes Geräusch, fast wie ein ängstliches Wimmern. „Die Möwen müssen in der Ferne rufen. Es klingt beinahe wie eine weinende Frau“, schlussfolgerte sie und eilte gleich darauf zum Fahrstuhl. Der Kiosk hatte bestimmt nur noch wenige Fischbrötchen übrig.
Als Frau Hoever ihren Einkauf getätigt hatte, den Kiosk verließ und ihre geliebte Morgenbrise tief einatmete, sah sie, wie ein kleiner Junge, vermutlich im Kindergartenalter, lachend mit einem Stock herumwirbelnd einer Möwe hinterherlief, die sich gerade ihr Frühstück nahe einer Mülltonne gesichert hatte. Für die Möwe sollte es ebenfalls ein Fischbrötchen geben, zumindest die vom Käufer verschmähten Reste eines solchen. Vom Jungen davongejagt, versuchte das Tier sogleich, zurück zur Beute zu gelangen, wo der Knabe jedoch gleich wieder lachend mit dem Stock nach ihr ausholte. „Lässt du wohl die arme Möwe in Frieden, du Bengel?“, rief Frau Hoever empört und lief dem Knaben ein paar Schritte entgegen. Der Junge hielt inne und blickte abwechselnd zu der Frau und dem Vogel, bevor er den Stock sinken ließ und schulternzuckend um die nächste Straßenecke davonlief. Frau Hoever verschränkte stolz ihre Arme, beobachtete die speisende Möwe und rief ihr zu: „Unter meiner Aufsicht tut niemand einem Schwächeren was zu Leide!“.
Als sie sich triumphierend umwandte, schoss ihr der Schrecken in die Glieder und brachte sie zum Erstarren, als sie sich wenige Meter von ihrem jungen Nachbarn fand, der in diesem Moment das Haus verließ und seine rechte Hand gedankenverloren mit der linken massierte. Er blickte Frau Hoever für einen Moment argwöhnisch an, steckte seine Hände angespannt in die Hosentasche und blickte von links nach rechts die Straße entlang, ehe er sie mit schnellen Schritten überquerte und davoneilte. Als er um die nächste Ecke verschwunden war, lachte Frau Hoever über sich selbst. „Was erschrecke ich mich denn so? Das war doch nur der junge Mann von nebenan. Ich bin manchmal aber auch nicht ganz bei mir.“ Kichernd fügte sie hinzu: „Was der für eine Fahne hinter sich herzieht. Da hat sich aber jemand nach seinem Schlaftrunk gestern Abend nicht die Zähne geputzt. So wie das riecht könnte man beinahe glauben, er habe sich heut Morgen schon ein Schnäpschen gegönnt.“
Sie kicherte erneut, schüttelte sich den Schrecken aus den Gliedern und machte sich auf den Weg zurück in ihre Wohnung. Im Fahrstuhl stehend, dachte sie zurück an die hungrige Möwe und an das Kind mit dem Stock. „Solange nur die Möwen meine Hilfe brauchen, bin ich der seligste Mensch auf Erden!“, sagte sie zu der metallenen Tür und ein kleines Lächeln zuckte über ihr Gesicht.
Sie beschloss, ihr Fischbrötchen an diesem Morgen, da es ein besonders schöner und sonniger Tag zu werden versprach, auf ihrem kleinen Balkon zu verspeisen. Als sie ihr Frühstück halb verzehrt hatte, öffnete sich die Tür vom Balkon der Nachbarwohnung und die junge dünne Frau, die wie stets müde aussah, trat heraus, schritt zum Rande ihres Balkons und blickte herab. Frau Hoever zuckte kurz zusammen, dann schmunzelte sie in sich hinein. „Die Aussicht nach oben ist doch viel reizvoller, wieso schaut sie denn nur herab?“, dachte sie sich, während sie der Nachbarin zunickend einen guten Morgen wünschte. Diese wandte den Blick zunächst nicht von der Straße ab, erwiderte aber mit leiser Stimme den Gruß „Guten Morgen, Frau Hoever. Wir haben Sie gestern Nacht hoffentlich nicht geweckt?“, fügte sie hinzu und wandte ihrer Nachbarin das Gesicht etwas weiter zu. Frau Hoever ihrerseits, wandte den Blick ruckartig von der jungen Frau ab, wieder einmal nicht begreifend, was sie denn nun plötzlich so erschreckt hatte. Sie suchte den Himmel nach ihren Möwen ab. Es schien ihr grade der perfekte Zeitpunkt zu sein, ihre Lieblingstiere zu beobachten. Im Blickwinkel sah die Gesichtshälfte der Nachbarin, die ihr vor einem Moment noch abgewandt war, ganz dunkel aus. Das Licht scheint sich sonderbar zu brechen, dass es diese optische Täuschung verursacht, dachte Frau Hoever, als ihre Nachbarin vom Rande des Balkons zurücktrat, sich ihr zuwandte, den Blick nun fest, beinahe herausfordernd auf sie gerichtet.
Seltsame Lichtbrechung!“, murmelte Frau Hoever in den Himmel.
Wie bitte?“, fragte die junge Frau mit resignierter, müder Stimme.
Wo sind denn bloß die Möwen heute?“,
Wissen Sie, mein Mann …“,
Frau Hoever unterbrach die Nachbarin, indem sie sich theatralisch schlotternd die Arme um die Brust schlang. „Brr, es ist ja doch recht kalt hier draußen“, kommentierte sie lachend und zog sich in die Wärme und Sicherheit ihrer Wohnung zurück. Dort verschloss sie die Balkontür und legte sich singend auf ihr Bett. Bald darauf ertönte wieder der Möwenchor. Lauter und vielstimmiger, als ihn Frau Hoever je vernommen hatte. „So ein schöner Chorgesang“, schrie sie ihre Zimmerdecke an, „als wären es Sirenen und eine rufende Menschenmenge.“
Es verging nicht viel Zeit, bis es an Frau Hoevers Tür klingelte und zwei Polizisten um ein kurzes Gespräch baten, die Dienstmützen fest in den Händen haltend.
Frau Hoever, wenn es Ihnen nichts ausmacht würden wir Ihnen gerne ein paar Fragen zu Ihrer Nachbarin stellen“,
Ja, eine nette junge Frau. Ein bisschen zu dünn, wenn Sie mich fragen. Zankt sich oft mit ihrem Mann.“
Die Polizisten tauschten verwirrte Blicke, als der kleinere von beiden einen Schritt auf sie zumachte und leise und vorsichtig sagte: „Frau Hoever, Ihre Nachbarin hat sich vor etwa einer Stunde das Leben genommen. Sie ist von ihrem Balkon gesprungen. Das müssen Sie doch gehört haben?“
Frau Hoevers Kopf wurde leer. Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Davon habe sie nichts mitbekommen.
Aber der Schrei der jungen Frau, die Schreie der Menschen auf der Straße, die Sirenen von uns und dem Rettungswagen …“
Möwen…“, murmelte Frau Hoever.
Es folgten noch Fragen über das Verhalten der Nachbarin und über die Beziehung der jungen Frau zu dem stets grimmig dreinschauenden Herrn. Frau Hoever musste zugeben, dass sie öfter mal gedacht hatte, die beiden zankten sich schon ein wenig oft. Aber wer sei man schon, über die Beziehung anderer zu urteilen.
Als die Herren Polizisten ihre Wohnung verlassen hatten, öffnete Frau Hoever ihr Küchenfenster und blickte auf das flache Dach des Hochhauses gegenüber, wo auch an diesem Tag wieder eine Möwenschar Rast machte. Der schreiende Chor erschien ihr leiser als sonst. Als würde die Solistin fehlen. Mit kleinen, fliehenden Schritten irrten die Möwen über das Dach, wie nach Hilfe suchend von links nach rechts blickend. Eine Möwe, die an der Kante des Daches stand, blickte erst herab und dann Frau Hoever, so schien es ihr, direkt in die Augen. Flehend und verurteilend zugleich.
Frau Hoever setzte sich auf ihren Esszimmerstuhl. „Solange mich nur die Möwen verurteilen“, murmelte sie, „bin ich der seligste Mensch auf Erden.“

– Ende – 


Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“:
08000 116 016

Wenn ihr Zeuge von häuslicher Gewalt werdet, zögert nicht, die Polizei zu verständigen. Besser einmal zuviel angerufen als einmal zu wenig.

Wenn ihr darüber nachdenkt euch das Leben zu nehmen, bitte holt euch Hilfe! Nehmt diese Gedanken ernst! Auch wenn es sich in diesen Momenten so anfühlt, als könne man niemals wieder Lebensfreude empfinden – das stimmt nicht. Man kann. Nur müssen wir uns gelegentlich selbst daran erinnern, weil in unseren Köpfen kein Platz für diese wichtige Wahrheit ist. Es KANN besser werden! Und es wird auch wieder besser werden.
 
Telefonseelsorge: 0800 1110111
Bei akutem Suizidrisiko, wendet euch an den Notarzt! 

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