Sieglinde Bühl

Ach, wenn Lara doch nur schreiben könnte wie Sieglinde Bühl. Intelligent, aber nicht zu kompliziert. Humorvoll, aber nicht albern. Mit den vor Genialität nur so übersprudelnden Gedichten, Essays, Dramen, Romanen, holte Bühl Lara stets ab und entführte sie in eigene Welten. Dabei würde Bühl niemals abgedroschene Phrasen, wie „das holt mich ab“ oder „in Welten entführen“ verwenden. Verächtlich belächeln würde sie solche Literaturverschandelungen und fände dann eine Formulierung, mit der sie die Aussage viel besser auf den Punkt brächte. Lara konnte das nicht. Sie bediente sich stets tausendmal gehörter Floskeln für die leicht schlüpfrigen Groschenromane, mit denen sie ihr Geld verdiente, und für die sie sich selbst ein wenig verachtete.

Laras Beziehung zum Werk von Sieglinde Bühl war eine ambivalente. Da war auf der einen Seite die Bewunderung und Begeisterung bei jedem zweiten Satz. Auf der anderen Seite schmerzte sie es jedes Mal, da sie sicher war, sich niemals eine solch geniale Formulierung, geschweige denn eine so tiefsinnige Geschichte mit unvorhersehbaren Wendungen ausdenken zu können. Lara schrieb letztlich das immergleiche Romantikabenteuer. Nur die Namen der Prota- und Antagonisten, sowie das Setting variierten. Abenteuer, über die Bühl sicher sagen würde, wenn sie sich überhaupt die kostbare Zeit nähme, diese zu lesen, dass sie neben dem primitiven Schreibstil, auch noch ein schrecklich rückständiges Frauenbild übermittelten. Sie hätte damit absolut recht, dachte Lara. In jeder der frivolen Erzählungen ging es um das Weibchen in Nöten, das sich dem starken Beschützer hingab, der sie zwar anfangs furchtbar behandelte, aber immer wieder durchscheinen ließ, dass sie sein raues Wesen besänftigen könnte. Sie müsse dafür nur lange genug bei ihm bleiben. Ihre Hingabe würde am Ende mit Liebe, Leidenschaft und ihrer Errettung belohnt werden.

Lara ekelte sich ein wenig vor dieser Verherrlichung toxischer Beziehungen. Aber die meisten ihrer Leserinnen, und letztlich ebenso Lara selbst, fanden die Unterwürfigkeit und Selbsterniedrigung leider auch ein bisschen geil.

Eigentlich hätte Lara zufrieden mit ihren Geschichten sein können. Sie lasen sich flüssig, erfreuten ihre Leserschaft und erfüllten so ihren Zweck voll und ganz. Doch immer, wenn sie einen Text von Sieglinde Bühl las, war es, als fiele ihr wieder ein, weshalb sie ursprünglich Autorin hatte werden wollen. Um etwas Außergewöhnliches, etwas Relevantes und Schönes zu schaffen. Aber am Ende produzierte sie Langeweile von der Stange.

 

Viele Menschen haben eine Lieblingsautorin oder einen Lieblingsautor. Aber nur wenige empfanden eine solch leidenschaftliche Verehrung, wie Lara für Sieglinde Bühl. Ein ganzes Bücherregal war gefüllt mit dem Gesamtwerk ihres großen Idols. Mehr als das. Es fanden sich dort neben Bühls Sachbüchern, Romanen und Memoiren auch Bücher anderer Autorinnen und Autoren, die zu der Ehre gekommen waren, ein Vorwort oder eine Empfehlung auf dem Buchrücken von Sieglinde bekommen zu haben. Es fanden sich zudem ein paar Aktenordner, gefüllt mit Bühls messerscharfen Kolumnen, Kommentaren und Interviews, die Lara im Laufe der Jahre aus sämtlichen Zeitungen und Magazinen gesammelt hatte.

Kurioserweise war keines der Schriftstücke mit einer persönlichen Widmung für Lara versehen. Nie hatte sie den Versuch unternommen, ihr Vorbild zu treffen. Zwar hatte sie mehrere Lesungen besucht, hatte dort aber immer darauf geachtet, möglichst weit hinten zu sitzen und so, oder auf andere Weise dem Blick der Autorin verborgen zu bleiben. Die oft zitierte Weisheit „Never meet your hero“ lebte sie aus tiefster Überzeugung. Sie war sicher, dass eine tatsächliche Begegnung mit Sieglinde Bühl unweigerlich zur Folge hätte, von ihrem Idol nur geringe, bis gar keine Wertschätzung zu erhalten. Laras langweilige und irrelevante Kunst sowie ihr unerträglich gewöhnliches Lebenskonzept würden ein solches Treffen für die großartige Frau zu einer Zumutung machen. Also betrachtete Lara die Ikone lieber aus sicherer Entfernung, von der aus sie sich der Vorstellung hingeben konnte, eine ihr ebenbürtige Literatin zu sein. Zumindest könnte sie sich theoretisch dieser Vorstellung hingeben, doch in Wahrheit ließ Lara selbst kein gutes Wort an ihrer Kunst. Und wann immer sie die eigene Arbeit zerriss, verlieh sie ihrem inneren Monolog dabei die trockene kühle Stimme der großartigen, der einzigartigen Sieglinde Bühl, die weder je durch inflationäres Verwenden von Adjektiven, noch durch Wortwiederholungen, ausufernden Schachtelsätzen oder sonstigen gern gemachten Fehlern im Bereich des kreativen Schreibens auffiel.

Wenn Lara doch mal das Verlangen verspürte, ihrem Vorbild gegenüberzustehen, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und blickte der selbstgetöpferten Sieglinde-Bühl-Büste in die Augen, während sie gedanklich die Überflüssigkeit ihres eigenen banalen Werks bemängelte.

 

All dies hilft vielleicht zu verstehen, weshalb Lara sich nicht freute, als sie erfuhr, dass die große Autorin ein Haus in unmittelbarer Nähe erworben hatte. Sie verspürte, im Gegenteil, Unbehagen bei der Aussicht, Bühl bald ihre Nachbarin nennen zu können.

Wegziehen. Das war ihr erster Impuls. Nichts wie weg, in eine dicht besiedelte Stadt, in der es nicht früher oder später unumgänglich war, die Nachbarn kennenzulernen. Dann wiederum, dachte Lara, liebte sie ihr kleines Haus am See und empfand es als ungerecht, dass sie nun Mann, Kind sowie sich selbst entwurzeln müsste. Schließlich war sie zuerst da gewesen. Lara blieb, trotz der Aussicht, dass ihr Leben von nun an komplizierter werden würde, denn sie stand vor der Herausforderung, künftig einer direkten Begegnung aus dem Weg zu gehen, aber irgendwie würde es schon gehen.

Als sie die Autorin das erste Mal leibhaftig erblickte, erstarrte Lara vor Schreck und war weder in der Lage, den Rückzug anzutreten, noch, den Mund zu schließen oder wegzuschauen. Da saß sie, die große Sieglinde Bühl auf dem Steg, an dem See, zu dem auch Laras Grundstück einen Zugang hatte. Neben Bühl befanden sich ein Laptop und eine Teekanne, aus der sie sich gelegentlich einen Schluck direkt aus dem Ausgießer genehmigte, ehe sie wieder kurz etwas in den Computer tippte, oder ihren dünnen, drahtigen Körper der Sonne entgegenstreckte. Ihre riesige Sonnenbrille und die wallende leichte Bekleidung rundeten das Bild der authentisch exzentrischen Künstlerin perfekt ab. So hatte Lara sich ihr Vorbild bei der Arbeit vorgestellt. Sicher entstand in diesem Laptop gerade Großes. Schnell gesellte sich Angst zu Laras Bewunderung, denn wenn sich ihre Vorstellung in Bezug auf Äußerlichkeiten bereits bestätigten, lag doch die Annahme nah, dass sie auch Recht mit den Befürchtungen hatte, wie ihr großes Idol auf sie reagieren würde. Die Gespräche, die Lara sich mit der Frau seit Jahren ausmalte, könnten Wirklichkeit werden.

„Schande“, würde Bühl beispielsweise sagen, „Schande, was Sie hier so großzügig Literatur nennen. Es ekelt mich, mir mit Ihnen die Berufsbezeichnung zu teilen.“

So, nur sicherlich besser formuliert als Lara sich dies ausmalen konnte, würde es ablaufen, wenn doch auch schon das lockere, selbstbewusste und wunderschöne Dasitzen und Schreiben der Sieglinde Bühl exakt Laras Vorstellung entsprach. Zumindest beinahe exakt entsprach. Die Starautorin wirkte ein wenig angespannter, als Lara gedacht hatte. Sie schien beinahe gereizt, wenn auch nur ein wenig. Lediglich eine Nuance einer sonst vollkommen ausgeglichenen Erscheinung.

In den nächsten Tagen stellte Lara fest, dass Bühls Spaziergänge an ihrem Haus vorbeiführte und daher verbrachte sie einige Zeit damit, am Fenster zu sitzen und sich zu notieren, wann ihr großes Vorbild unterwegs war. So könnte sie auf Dauer besser planen, wann es sicher war das Haus zu verlassen, ohne der Autorin persönlich zu begegnen. Einmal dachte sie sogar, ihre Blicke hätten sich kurz getroffen, doch Bühls Blick schien nur flüchtig an ihr vorbei in die Wohnung zu fallen, ehe sie ihren Weg fortsetzte.

Es war eine nervenaufreibende Zeit für Lara. Gerade, als sie dachte, endlich genug Daten gesammelt zu haben, um über einen einigermaßen sicheren Ausgehplan zu verfügen, tauchte Sieglinde Bühl plötzlich gar nicht mehr bei Laras Haus auf. Gut möglich, dass die Starautorin inzwischen einen alternativen Weg gewählt hatte oder ihr Haus nun lieber zu anderen Zeiten verließ.

Lara musste wissen, welche dieser Möglichkeiten zutraf, wenn sie ihren Plan für Bühlsichere Zeiten vervollständigen wollte. So beschloss sie, die Gegenprobe zu machen. Sie selbst legte ihre eigene Spazierroute so, dass sie an Bühls Grundstück vorbeikam, vor dem sie stets prüfte, ob es den Anschein machte, als sei die Schriftstellerin zuhause oder eben nicht.

Bei diesen Spaziergängen war es oft knapp, wenn es um das Vermeiden des direkten Kontakts ging. Das ein oder andere Mal schaffte Lara es erst im letzten Moment, durch abrupten Richtungswechsel, oder das Wegducken hinter Hauswänden dem Blick ihres Vorbildes zu entgehen. Einmal blieb Lara nur noch der Sprung in das dichte Gebüsch am Straßenrand, als sie Sieglinde Bühls Stimme hinter der nächsten Ecke näher kommen hörte. Sicher wurden hier gerade am Mobiltelefon Details mit dem Verleger zur nächsten meisterlichen Veröffentlichung besprochen, die Lara und ihr bescheidenes Schreibtalent aufs Neue begeistern und demütigen würde. Zwischenzeitlich fuhr kurz Panik in Lara auf, als sich das Gesicht des gefürchteten und verehrten Genies leicht in die Richtung ihres Verstecks zu drehen schien. Doch sie entdeckte sie wohl nicht, wenn sich dies auch nicht zu hundert Prozent sagen ließ, da Bühls Augen von der großen Sonnenbrille verdeckt waren, die sie immer, auch zu späteren Abendstunden trug.

Lara harrte so lange mit angehaltenem Atem in der Hecke aus, bis Bühl außer Hör- und Sichtweite war. Nachdem der Schreck verklungen war, erfreute sie sich an der Erkenntnis, dass wohl bald eine Veröffentlichung ihrer Lieblingsautorin bevorstand. Sie schloss dies nicht nur aus den versehentlich mitgehörten Gesprächsfetzen am Telefon, sondern auch aus Bühls sichtlicher Anspannung, die jedes Mal, wenn Lara sie sah, ein wenig größer schien. Lara kannte dieses Verhalten von sich selbst, wenn bei ihr eine Abgabe bevorstand. Und das bei ihren öden Schundromanzen, die sich bestenfalls in einer Wühlkiste am Bahnhofskiosk wiederfinden würden. Wie arg müsste die Anspannung dann erst sein, wenn man eine wirklich gute, nein, die weltbeste Schriftstellerin war? Allen Anschein nach sehr, dachte Lara spätestens ein bis zwei Wochen später, als Sieglinde Bühl einen nahezu verängstigten Eindruck machte. Sie lief nur noch selten, und wenn, dann mit hochgezogenen Schultern durch das Städtchen. Meist verließ sie ihr Haus überhaupt nicht, was Lara in zweierlei Hinsicht freute. Einerseits wies dieses Verhalten darauf hin, dass Bühl mit der Arbeit an ihrem neuen Werk in den letzten Zügen steckte, des Weiteren bedeutete es für Lara, dass sie selbst sich bedenkenlos in ihrer Heimat bewegen konnte. Sie hatte zwar ihre Aufzeichnungen über die Sieglindesicheren Zeiten, warf aber nur noch selten einen Blick darauf. Nur wenn sie kurz davor war, am Haus der Autorin vorbeizulaufen, prüfte sie ihre Daten, um zu sehen, ob es nicht vielleicht angebracht wäre, ein wenig abzuwarten, um Sieglinde Bühl nicht just beim Verlassen ihres Hauses abzupassen.

So auch an einem Mittwoch, als Lara bei einem ihrer immer häufiger werdenden Spaziergängen, Bühls Grundstück zu einem Zeitpunkt kreuzte, an dem die Autorin oft zum Joggen aufbrach. Also stellte sich Lara hinter das einigermaßen blickgeschützte Bushaltestellenhäuschen und lehnte sich nur so weit vor, dass sie eventuelle Aktivitäten im Hausinneren beobachten könnte.

Nur im Schlafzimmer brannte Licht. Kurz nachdem Lara mit ihrer Observierung begonnen hatte, erlosch es. Lara runzelte die Stirn, überprüfte erst die Uhrzeit, dann ihre Notizen. Ungewöhnlich. Es waren noch mehrere Stunden, bis die Autorin sich üblicherweise schlafen legte. Kurz darauf ging das Licht wieder an und Bühls Silhouette zeichnete sich kurz am Fenster ab, ehe sie wieder verschwand und das Licht von Neuem erlosch.

Besorgt trat Lara einen Schritt aus ihrer Deckung hervor, den Blick weiter auf das Fenster gerichtet. Das Licht ging kurz an und gleich darauf wieder aus. Sicher war es, dachte Lara, ein Zeichen, das Bühl sandte, in der Hoffnung jemanden darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich in einer Notlage befand. Als Lara sich umblickte, sah sie einen kleinen Lieferwagen mit verdunkelten Scheiben auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es durchfuhr sie eiskalt. Hatte sie nicht die Tage erst in der Zeitung gelesen, dass es zur Zeit vermehrt Einbrüche in dieser Gegend gab? Wurde gerade das Haus der großen Sieglinde Bühl ausgeraubt, während diese sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen hatte und versuchte, der Nachbarschaft stille Hilferufe zu senden?

Laras Herz pochte, als sie aus ihrer Deckung trat und sich dem Haus näherte, mit dem festen Vorsatz die Polizei zu verständigen, sobald sie einen Hinweis darauf erblickte, der diese Vermutung bestätigte. Als sie das Grundstück betrat, griff eine Hand von hinten ihre Schulter.

Das Licht in Sieglinde Bühls Schlafzimmer ging an. Lara wirbelte herum und stand zwei Polizisten gegenüber.

„Können Sie uns erklären, was genau Sie hier tun?“, fragte einer der beiden. Weitere Lichter im Hause der Autorin gingen an. Als Lara die beiden Beamten über ihre Beobachtungen unterrichten wollte, flog die Haustür auf und Sieglinde Bühl erschien in voller Pracht mit aufgerissenen Augen im Türrahmen.

„Das ist sie“, rief sie, „die Frau, die mir seit Monaten auflauert.“

Lara war sprachlos, was nur zum Teil mit dem unerwarteten Vorwurf zu tun hatte, sondern auch, oder hauptsächlich, mit der Tatsache der unerreichbaren Ikone nun direkt gegenüber zu stehen.

„Können Sie das bitte erklären?“, fragte der Polizist Lara, die jedoch zu etwas anderem als dem ehrfürchtigen Starren auf ihre Heldin nicht imstande war.

„Sie beobachtet mich Tag und Nacht“, rief Bühl stattdessen, „taucht überall auf, wo ich bin. Versteckt sich im Gebüsch, starrt durch meine Fenster, verfolgt mich, sie hat in ihrem Haus eine Art Schrein mit einer Büste von mir. Sie ist absolut krank.“

Sie umklammerte ihre Tür, Tränen schossen ihr in die Augen.

Der zweite Polizist sprach mit ruhiger besänftigender Stimme: „Beruhigen Sie sich Frau Bühl, wir sind ja nun da.“

„Wir klären das erstmal auf der Wache“, fügte sein Kollege hinzu und zog Lara von dem Haus fort.

Sieglinde Bühl schaute Lara tief in die Augen und winselte: „Sie sind doch komplett wahnsinnig.“

„Wahnsinnig“, wiederholte Lara im Flüsterton.

„Wahnsinnig“, wiederholte sie es in ihrem Kopf wieder und wieder, als sie sich widerstandslos zu dem um die Ecke parkenden Streifenwagen führen ließ.

„Wahnsinnig.“

Man setzte sie sanft auf die Rückbank. Als sich die Autotür schloss, zeichnete sich ein seliges Lächeln auf ihrem Gesicht ab.

„Wahnsinnig“, sagte sie, „Sieglinde Bühl findet mich wahnsinnig.“

 


 

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