Bad Hankamm Hero
Nach jedem Auftritt trank er noch ein Bier und einen Jägermeister im stinkenden Stiefel. Seit 23 Jahren etwa einmal pro Woche. Trotzdem hatte er nach all dieser Zeit noch immer nicht den Status eines „Das Übliche“-Bestellers erlangt. Erinnerungswürdig war er wohl nur, wenn er in dem fedrigen bunten Hahn steckte. Also in dem Kostüm, versteht sich. Andernfalls wäre ihm wohl größere Bekanntheit vergönnt, allerdings nicht unbedingt der angenehmen Art. Aber es gab Tage, da hätte er bestimmt abgewägt, ob es nicht wünschenswerter wäre, weltweit mit seinem Gesicht für etwas bekannt zu sein, wie sich in Tierkadaver zu wälzen, statt überhaupt nicht wahrgenommen zu werden. Obwohl man derjenige ist, dem die Kleinstadt Bad Hankamm überregionale Beachtung verdankt.
Warum sonst sollte sich irgendjemand für den Viertligisten SC Bad Hankamm interessieren, wenn da nicht das legendäre Warm-up vor jedem Event wäre, bei dem Maskottchen Hänno der Hahn seinen einzigartigen Tanz aufführte, bei dem seine Schultern ruckartig so weit nach vorne klappen ließ, dass sie sich beinahe berührten. Dazu das Vor- und Zurückschnellenlassen des Kopfes, das die tennisballgroßen Kulleraugen des gigantischen Hahnenkopfes so herrlich albern zum Wackeln brachte. Formvollendet wurde die Performance von dem unnachahmbaren Krächzgesang, das keine künstliche Audioverstärkung erforderte.
Hypermobilität und das Talent der Stimmenimitation hatten ihn zur Legende gemacht. Aber die Bitte des Vereins, mit seiner wahren Identität nicht zu hausieren, um den Mythos Hänno aufrecht zu halten, sorgten dafür, dass ihm das niemand dankte, solange er unkostümiert an der Bar saß. Hier erhielt er nur Bier, Jägermeister und irritierte Blicke anderer Gäste, wenn sie seine teils unnatürlich wirkenden Verrenkungen beispielsweise beim Zücken des Geldbeutels beobachteten. Mehr Beachtung bekam er dort nicht. Also verbrachte er seine Feierabende in der Vereinskneipe damit, die Menschen um sich herum, zu beobachten.
So tat er es auch bei diesem Mitte Zwanzigjährigen, der eines Abends schwungvoll die Tür aufstieß, strahlend zu dem runden Tresen in der Mitte des Raumes tänzelte und direkt neben ihm Platz nahm, scheinbar aber ohne überhaupt Notiz von ihm zu nehmen.
Schnell beugte sich der Wirt zu dem jungen Mann und wies ihm mit einem erwartungsvollen Kopfnicken an, seine Bestellung aufzugeben. Hänno in zivil beobachtete die Szene, schaute kurz auf sein leeres Glas und wunderte sich, dass es überhaupt möglich war, so schnell bestellen zu dürfen.
„Eine Lokalrunde! Bier für Alle!“ krächzte der junge Kerl heiter in übertriebener Lautstärke und erhielt zur Antwort freudiges Dankes-Gröhlen aus sämtlichen Ecken der Kneipe.
„Was gibt’s denn zu feiern?“, fragte der Wirt, während er nach einem anerkennenden Nicken anfing ein Bier nach dem anderen zu zapfen.
„Vor dir sitzt“, verkündete der junge Kerl und machte eine bedeutungsschwangere Pause, bis er sicher war, dass ihm die gesamte Aufmerksamkeit gehörte, „der zukünftige Hänno!“
Ein Raunen ging durch den Raum, während die zwei weiteren Kneipenmitarbeitenden die Biere verteilten. Zivil-Hänno verschluckte sich, hustete und schaute seinen Sitznachbarn entsetzt an. Er wollte gerade Einspruch erheben, als der junge Kerl weitersprach: „War eben beim Casting. War ne ganz inoffizielle Geschichte, ging nur über die Agentur. Keine öffentliche Ausschreibung oder so. Sollte geheim bleiben. Aber ich kann nicht für mich behalten, ich freu mich zu sehr! Hab sofort die Zusage bekommen. Ich habe jetzt noch ein paar Monate Zeit, die Choreo einzuüben und dann gehts los“.
Es wurde geklatscht und gejubelt. Nur Zivil-Hänno saß min offenem Mund da. Gerne hätte er auf dem Schrecken etwas getrunken, doch bedauerlicherweise hatte man ihn bei der Lokalrunde übersehen. Als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte und erneut den Versuch unternehmen wollte, nähere Informationen aus dem angeblich neuen Hänno zu bekommen, war dieser bereits der Einladung einer Gruppe Ultras gefolgt, die ihn an die gegenüberliegende Seite des Tresens herangewunken hatten. Während seines Gangs zu der Gruppe angeheiterter Männer ließ er es sich nicht nehmen, den unverwechselbaren Hahnentanz schon einmal zu demonstrieren, was ihm allgemeinen Beifall einbrachte. Zivil-Hänno beobachtete den jungen Mann und musste sich eingestehen, dass dieser Tanz qualitativ um einiges besser war als sein Original. Vor zwanzig Jahren konnte er auch noch so leichtfüßig hüpfen, aber inzwischen? Aber auch wenn das Alter nach und nach etwas spürbarer wurde, hatte das der Begeisterung für seine Performance nicht geschadet. Er bekam auch nach all der Zeit noch den Jubel von der Menge und es hatte nie irgendwelche Gespräche mit seinen Vorgesetzten gegeben, die an seiner Leistung Kritik geübt hätten, oder angedeutet hätten, dass man sich nach einer Nachfolge umschaute. Aber was für Gespräche hatte es überhaupt gegeben? Nun, es wurde ihm nach jedem Auftritt auf die Schulter geklopft und „Sauber!“, gerufen. Aber nun, da er es sich recht überlegte, hieß es einige Jahre zuvor noch jedes Mal: „Sauber, richtig geil, Junge!“. Hatte er sein „richtig geil, Junge“ verloren? Reichte „Sauber“ nicht mehr aus? Er schüttelte sich, rutsche von seinem Hocker und wollte zu seinem vermeintlichen Nachfolger eilen, um ihn auszufragen, doch schob sich die Pranke des Wirtes zwischen ihn und der fröhlichen Gesellschaft auf der anderen Seite des Tresens.
„’Tschuldigung Kumpel, aber der Bereich ist für unsere Stammgäste reserviert.“,
„ich bin mindestens einmal die Woche hier“,
„Haha, netter Versuch, das wüsste ich wohl“, spottete der Wirt und schob ihn freundlich, aber bestimmt zurück zu seinem Platz.
Original-Hänno setzte sich wieder und schaute fassungslos auf den jungen Kerl gegenüber.
„Gib dir keine Mühe, Junge, das ist der Lauf der Zeit“, erklang es von rechts an sein Ohr. Sein Blick folgte jener rauen alten Stimme und der Schreck hätte ihn beinahe vom Hocker geworfen, als er direkt neben sich in das Gesicht eines alten dürren Mannes mit langem zerzausten Bart blickte, dessen irre Augen ihn gleichzeitig mitleidig als auch amüsiert anstierten.
„We … was zum, wer …“, entfuhr es ihm, „Seit wann sitzen Sie hier?“,
Der Alte runzelte die Stirn und verschränkte etwas beleidigt die Arme,
„Seit drei Stunden, Junge. Hast mich gar nicht gesehen, was?“
„ähm, ähm, äh …“,
„Mann, Mann, Mann und ich dachte, du hättest dich aus Freundlichkeit neben deinen Vorgänger gesetzt. So kann man sich irren.“ Der Alte schüttelte den Kopf, lachte aber versöhnlich.
„Vorgänger?“
„Ich bin Hänno der Erste. Erinnerst du dich nicht?“
„Der Erste? Aber ich bin Original–“,
„Ne, biste nicht! Du bist mit den Jahren so eins mit deiner Rolle geworden, dass du dir inzwischen einbildest, du hättest sie erfunden.“
Er lachte geringschätzend.
„Und der Grünschnabel da hinten wird das in zwanzig bis dreißig Jahren genauso glauben. Wirst schon sehen. Aber eigentlich war ich das, Junge. Ich habe Hänno erfunden. Ich BIN Hänno. Ich habe Bad Hankamm groß gemacht.“
Original- oder besser: Doch-nicht-Originalhänno blickte abwechselnd und mit steigendem Entsetzen seinem Nebenmann und dem Jungen am Tresen gegenüber an. Er kramte in seiner Erinnerung nach den Anfängen seiner Karriere und es wuchs die niederschmetternde Gewissheit, nicht so unersetzbar zu sein, wie er es seit Jahren geglaubt hatte.
„Nimms dir nicht so zu Herzen, Junge.“, lachte Vermeintlich-wirklich-Original-Hänno, „Der Verein wirds dir danken. Hab damals ne fette Abfindung und ein Trikot mit Autogramm bekommen. Mit deinem Autogramm, Hahaa“, er ließ ein schrilles, verbittertes Lachen ertönen.
„Und du warst wirklich der Erste?“, fragte Bald-Ex-Hänno,
„Na klar, Junge, oder siehst du hier noch jemanden?“, antwortete Alt-Hänno und deutete ausholend zu seiner Rechten. Als er mit seinem Blick der eigenen Geste folgte, verstummte er plötzlich und wurde noch blasser, als er ohnehin schon war. Scheinbar ohne es zu wollen, hatte der Alte auf eines der skurilen Objekte der Kneipendekoration gedeutet. Eine mannsgroße, aufrechtsitzende Mumie, der, wie die beiden ausrangierten Performer nun zum ersten Mal bemerkten, ein Schild um den Hals hing, mit der Aufschrift „Hänno der WIRKLICH Erste“.
„Ich … Ich muss los“, stotterte der Alte, erhob ich von seinem Hocker und wankte unsicher aus der Kneipe.
Noch-Hänno blickte ihm mit offenem Mund hinterher, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder seinem vermeintlichen Nachfolger schenkte. Er beobachtete ihn beim Feiern, beim Schwärmen, beim Prahlen und das Gefühl eines seltsamen Deja-Vus wuchs und wuchs, ebenso eine Mischung aus Mitleid und Verachtung für den neuen Hänno.
Er verspürte die Lust, sich ordentlich zu betrinken, was ihm in dieser Kneipe aber wohl nicht vergönnt sein würde, wie er nach zwei-drei vergeblichen Kontaktaufnahmeversuchen zum Wirt akzeptierte. Also rutschte er von seinem Platz und schlurfte ebenfalls Richtung Ausgang.
Er warf einen letzten Blick zurück und bereute es von Herzen, anderen Bereichen seines Lebens nicht ähnlich viel Bedeutung wie seiner Karriere geschenkt zu haben. Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihm keiner nehmen konnte, Hänno gewesen zu sein. Er war berühmt. Wenn auch nur im Hahnenkostüm. Diese Erinnerung würde ihm bleiben. Und wenn das nicht reichte, könnte er sich im Zweifelsfall immer noch medienwirksam in Tierkadavern wälzen.
Entstanden für die 1. Ausgabe von „Deis und Ella lesen Dinge vor“.
Thema: 3 Minuten berühmt
#LesiDinge

Kommentare
Kommentar veröffentlichen