Die erste Schöpfung


 

„So meine Lieben“, rief die stets übertrieben euphorische Lehrgottheit. Sie ließ den Blick liebevoll durch die Lerngruppe schweifen, drehte ihren Stuhl um 180 ° und setzte sich andersherum als eigentlich von der Konstruktion „Stuhl“ vorgesehen auf diese, sodass sie breitbeinig saß und die Hände lässig auf der Rückenlehne abstützte. „Wie ihr wisst, endet heute euer erstes Probeschöpfungsprojekt. Für mich als Lehrgottheit immer ein ganz besonderer Moment. Später, wenn ihr mal ausgelernte Gottheiten seid, werdet ihr liebevoll auf diese ersten Gehversuche zurückblicken, das kann ich euch versichern. Ich denke selbst noch oft an meine Lehrzeit damals zurück. Hach. Ich bin mir sicher, ihr hattet alle eine spannende Zeit mit eurer Schöpfung. Es ist immer eine gute Gelegenheit auszutesten, wo gewisse Problematiken auftreten, die man in späteren Versuchen möglicherweise, oder auch möglicherweise nicht, unterlässt. Jetzt sind wir hier, um einmal in der Runde zu besprechen, wer denn welche Erfahrungen gemacht hat, was man vielleicht hätte besser machen können, worauf man sich bei der nächsten Schöpfung vielleicht mehr konzentrieren möchte, oder ob man vielleicht sogar den ersten Schöpfungsversuch aufrecht erhalten, ausbauen und optimieren möchte. Mir ist es wichtig, dass ihr alle, auch wenn eure Projekte vielleicht nicht so gelaufen sind, wie ihr euch das erhofft habt, auf die Schulter klopft. Ihr habt erschaffen. Das ist toll! Und das Projekt wird auch nicht benotet, wir wollen hier einfach gemeinsam lernen. Deshalb soll das Ganze hier auch nicht so schulisch wirken wie der übliche Unterricht. Macht es euch gemütlich, ihr dürft mich heute Gotti nennen, ich hab uns hier, ihr seht, Käffchen mitgebracht und Anwertergottheit Vier war so lieb ein paar Kekse zu backen, dafür vielen Dank, liebe Vier, also, wir machen uns einen schönen Nachmittag. Hach, aufregend. Wer möchte denn mal beginnen und uns von ihrer Schöpfung erzählen?“

Stille kehrte in die Runde der Anwärtergottheiten. Durchbrochen von einem leisen Schnipsen, von der in die in die Höhe geschnellte Hand von Vier.

„Ja Vier, ich bin mir sicher, dass du das toll gemacht hast und wir sind gespannt, was du zu berichten hast, aber vielleicht möchte ja mal jemand anderes anfangen? Drei? Wie wär’s? Erzähl doch mal!“

„Ja also eigentlich gut alles.“, Anwertergottheit Drei griff unter ihren Stuhl und hob einen Schuhkarton auf ihren Schoß, mit dem sie mit Marker „Übungsschöpfung“ geschrieben hatte. Sie öffnete den Karton und präsentierte den anderen das Innere. Sie blickten auf die übliche schier endlose Weite im Inneren eines Schöpfungskartons. Licht und ein ohrenbetäubendes Gewirr aus verschiedensten Geräuschen drang nach draußen. Drei verschloss das Behältnis wieder und schob ihn wieder unter den Stuhl. „Hat auch schon Spaß gemacht, so schöpfen und so. Ich wollte, dass das so ne Art Selbstläufer wird und ich da nicht mehr so viel drauf gucken muss. Hat auch ok funktioniert.“,
„Ja toll Drei, wirklich toll. Hast du etwas, wo du sagen würdest, das würdest du vielleicht beim nächsten Mal anders machen?“,
„Ja also, was ich halt vielleicht nicht so toll gemacht habe, also, ich hätte vielleicht im Nachhinein betrachtet lieber überhaupt nicht angedeutet, dass es mich gibt. Also ich hab das nur mal so durchblitzen lassen und die Schöpfung, also aber auch nur eine Spezies, hat sich dann voll komisch in verschiedene Richtungen entwickelt. Haben irgendwelche Sachen unterschiedlich interpretiert, sich dann gegenseitig die Schädel eingeschlagen, weil die klären wollten, wer recht hat oder so, und irgendwie voll viele sich dann voll was darauf eingebildet, dass sie meine Abbilder sind oder so. Also aber halt wirklich nur die eine Spezies. Aber die hat dann so getan, als wäre sie irgendwie megakrass und alle andere Spezies dann voll runtergemacht, voll alles kaputt gemacht und einfach voll die Arschlöcher. Hab die dann aber auch nicht so richtig wegbekommen. Die haben sich megakrass vermehrt und naja, keine Ahnung, voll der Parasit irgendwie. Die lasse ich beim nächsten Mal weg. Der Rest war eigentlich ganz cool.“

„Super, toll, klasse, da hast du ja was gelernt. Dafür sind wir hier. Da kannst du stolz auf dich sein, Drei. Genau darum geht es, dass wir wissen, was wir für die großen Schöpfungen alles vermeiden wollen. Eins, möchtest du vielleicht weitermachen?“

„Jou“, rief Eins selbstbewusst und knallte ihren Schuhkarton schwungvoll auf den vor ihr stehenden Tisch. Sie hatte den Karton vollflächig mit Kugelschreiberblitzen und -totenköpfen verziert. Als sie den Deckel abnahm, drangen gequälte, wütende und verzweifelte Schreie nach außen. Eins lachte und setzte den Deckel wieder auf. „Ich habe da eher so den komplett anderen Ansatz verfolgt. Ich habe mich bewusst nur auf eine Spezies beschränkt und die weiß, dass ich existiere. Da habe ich die oft genug dran erinnert. Habe angefangen Plagen zu schicken, wenn die daran gezweifelt haben und sich nicht ordentlich, ich sag mal dankbar gezeigt haben. Habe denen klare Regeln gegeben, wie sie leben sollen und regelmäßig gezeigt, was passiert, wenn die das nicht befolgen. Die sollen mir Messen halten, Opfer bringen, so ein Kram.“,

„Aha, soso, ok, ja spannend, toll, und wie hat das so funktioniert?“, fragte die Lehrgottheit,

„Zuerst voll gut. Aber irgendwann wurden die undankbar, wütend und haben an mir gezweifelt. Die letzten Tage, also für die Schöpfung halt paar tausend Generationen oder so, keine Ahnung, kein Bock das auszurechnen, haben die Statuen von mir zerstört, zu anderen, frei erfundenen netten Gottheiten gebetet und so. Also bis vor ein paar Tagen war alles cool, aber jetzt inzwischen nicht mehr wirklich zu retten glaube ich. Ich hab mir vorgenommen, dass ich jetzt auch so in unserer Runde mein Projekt dann auch offiziell beende.“
Sie lachte, nahm den Karton zwischen die Hände, murmelte die nötigen Worte, und ein loderndes Flammenmeer löschte binnen weniger Sekunden den Karton und alles darin befindliche Sein aus.

„Also ich weiß ja nicht, das war jetzt aber ein bisschen überzogen, oder?“, skandierte Vier angewidert, erhielt als Antwort von Eins aber nur ein Augenrollen.

„Ja ja, gut Vier, gut“, warf Lehrgottheit ein, „dafür sind wir auch da. Konstruktive Kritik. Erläutere gerne, wie du es gemacht hättest.“,

Vier schüttelte den Kopf „Also nein, ich verstehe einfach nicht, warum man unbedingt so angebetet werden möchte. Darum geht es doch nicht, oder?“ Die Anwertergottheit blickte hilfesuchend zu Drei.

„Keine Ahnung, so krass vielleicht nicht“, entgegnete Drei schulterzuckend, „es müssen ja nicht gleich massenhaft Jungfrauenopfer sein oder so, aber so gar nicht gewürdigt werden ist halt auch doof irgendwie, oder?“

„Danke! So nämlich!“, rief Eins und lehnte sich selbstbewusst zurück.

Vier schnaubte, legte eine Hand an die Brust, die zweite Hand auf ihren mit Stickern und Schleifen verzierten Schuhkarton und sprach: „Also nein, also mir geht es darum, dass meine Schöpfung einfach eine gute Zeit hat, also mir geht es da nicht um Anerkennung, ich bin eher so die gütige Gottheit. Wenn meine Schöpfung eine gute Zeit hat, also dann habe ich auch eine gute Zeit. Also ich weiß nicht, weißt du? Ich finde einfach, nichts für ungut, ich finde euch echt cool und so, aber also ich kann das irgendwie nicht verstehen, wenn man da so Anerkennung haben will, also für wen machen wir das denn? Also ich mache das nicht für mich, sondern für meine Schöpfung.“ Sie lächelte mit stolz geschwollener Brust die Lehrgottheit an.

„Schön“, meldete sich die Lehrgottheit wieder zu Wort, „Ich finde es ganz toll, wie ihr euch austauscht und eure verschiedenen Ansätze vertretet. Toll. Ich sehe, ihr habt alle eure ganz individuellen Erfahrungen gemacht. Das ist wirklich super, genau so soll das sein. Aber Zwei, von dir haben wir ja nun noch nichts gehört, möchtest du nicht auch ein bisschen von deiner Schöpfung erzählen?“

Zwei saß mit hochgezogenen Schultern dort und blickte auf den knittrigen und fleckigen Schuhkarton auf ihrem Schoß. Bei Erwähnung ihres Namens zuckte die Anwertergottheit zusammen, rutschte ein wenig auf dem Stuhl hin und her, und sagte schließlich leise: „Naja, also, das meiste ist eigentlich ganz gut gelaufen. Ähnlich wie bei Drei. Hatte auch so ne Parasitenspezies, aber die hat sich eigentlich auch ganz cool entwickelt. Ich wollte das eigentlich noch ein bisschen weitermachen, aber …“, sie öffnete vorsichtig den Karton und schielte hinein, „mir ist meine Schöpfung heute Morgen runtergefallen. Alles tot.“ Ihre Augen wurden ein wenig feucht.
Lehrgottheit lachte, „Jetzt mach dir mal keinen allzugroßen Kopf, dafür sind ja die Probeschöpfungsprojekte da. Ihr übt ja dafür, dass ihr später wisst, worauf zu achten ist und wo man vorsichtig sein sollte, um spätere Schöpfungen ohne Katastrophen und Dramen zu schaffen. Ich denke, bis heute morgen hast das toll gemacht, Zwei, also sei da mal nicht zu streng mit dir. Das nächste Mal läufts besser, hm?“
„Ja aber, also die Schöpfung … Denen ging es eigentlich allen ganz gut. Und die waren voll intelligent und so. Für die kam das, glaube ich voll aus dem nichts. Und seit dem … also … Ich frage mich … Ich habe jetzt überlegt, was wenn das bei uns auch so ist?“
Zwei sah sich um, in der Hoffnung Zustimmung oder wenigstens Verständnis in den Augen der anderen zu finden, blickte aber nur in verwirrte, belustigte und fragende Gesichter. „Also, ich weiß nicht, ich denke die ganze Zeit, was wenn wir die Probeschöpfung einer noch höheren Gottheit sind, die dann irgendwann keinen Bock mehr auf uns hat?“
Eins schnaubte verächtlich. Drei schaute irritiert, Vier wurde blass. Die Lehrgottheit nickte und sagte im ruhigen Ton, „Zwei, du bist nicht die erste Gottheit, die sich solche Gedanken macht, glaube mir. Auch ich habe mir diese Fragen gestellt, aber es ist wichtig, dass du dich nicht von solchen Ängsten beherrschen lässt, sonst kann es passieren, dass sie dein gesamtes Dasein bestimmen.“,
„ich kann jetzt schon an nichts anderes mehr denken.“,
„Ich weiß Zwei, ich weiß. Es kann hart sein. Ich kann dir einen guten Rat geben, und ihr anderen solltet genauso gut zuhören, und das, was ich euch zu sagen habe, verinnerlichen. Was mir damals geholfen hat, war …“
Doch ehe sie den Satz vollenden konnte, beendete ein loderndes Flammenmeer binnen weniger Sekunden alles Sein.


Entstanden für die 3. Ausgabe von „Deis und Ella lesen Dinge vor“. Thema: Kaffee und Götter
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