Die Motte

 


 

 

Ihr Kokon umwob sie wohlig, wärmend weich und unbedrohlich
Sinnend lag sie da und freute sich schon auf den nächsten Tag
Da sie im Innersten schon spürte, wozu ihre Geduld bald führte
Kommen soll, was ihr gebührte, was sie lang erwartet hat
Sehnte sich raus aus ihrer Hülle, strebte nach dem neuen Pfad
Als Schmetterling, schön und stets satt

Als sie die Zeit gekommen glaubte, sich endlich zu regen traute
Brach sie durch die Seidenschicht, erwartete das Sonnenlicht
Doch war’s die Nacht, die sie begrüßte, sie mit trister Kälte küsste
Schatten dort, wo Licht sein müsste, auf den Flügeln und Gesicht
Kein Schmetterling, nein eine Motte wurd dort geboren im Dickicht
Und satt war sie noch lange nicht

Innere Leere, tiefer Wahn machten die Motte untertan
Trieben sie zum fressen an, und also fraß sie – Ast und Blatt
Sodann begann sie ihre Reise, fraß sie in gewohnter Weise
Wieder Äpfel, Birnen, Pflaumen, reif und faul, ob süß ob fad
Verschlang, all das, was sie erblickte, wie sie’s schon als Raupe tat
Und fühlte sich auch jetzt nicht satt

Hungrig kroch sie so für Wochen, Früchte, Gras, fraß jeden Brocken
Benetzte, wo sie langgekrochen, mit feinem Flügelstaub den Pfad
Fraß sich durch die tiefsten Wälder, fraß sich durch blühende Felder
Bis sie schließlich eines nachts ein düstres Herrenhaus betrat
Will mich auch hier an all dem laben, was dies Haus zu bieten hat
Und sei endlich für immer satt

Leer und verlassen schien die Villa, doch sie vernahm ein leises Wimmern
Fand schon bald in ei’m der Zimmer, im Schatten kauernd, fern vom Licht
Einen Mann, der kaum sich regte, um eine Lenore flehte
Wahnsinn seinen Geist umwehte, bemerkte selbst die Motte nicht
So soll der Alte mir gehören, den die Nacht mir aufgetischt
Denn satt bin ich noch immer nicht

Sie verschlang des Alten Leib, samt seine Seel voll Bitterkeit
Sie labte sich auch an der Zeit, die ihm sonst noch geblieben wär
Verspeiste ihn mit Haut und Haar, kein Knochen blieb vom alten Narr
Bemerkte, als sie fertig war, jemand sah ihr Blutdessert
Ein Rabe war es, der nun flog in Kreisen über sie umher
Ein Rabe wars und sonst nicht mehr.

Und der Motten Wabenaugen leuchteten vor kindlich Staunen
Blickten hungrig voller Gier und voller Neid aufs Federtier
Breitete ihre Flügel aus, wollt auch so fliegen, hoch hinaus
Sah auch im Raben einen Schmaus, doch der Grund gab sie nicht her
Wie soll auch ich die Luft erobern, wenn mein Wesen wiegt so schwer?
Sprach der Rabe „Nimmermehr“

Nur dies sprach er und entschwand, flügelschlagend imposant
Und die Motte blümerant, hockte noch da im fahlen Licht
Stimmt es was der Gramphrophet, rief, eh er davongechwebt
Hab ich die Ketten selbst gewebt, wollen mich die Lüfte nicht?
Sie schwang noch einmal ihre Flügel, doch zu schwer war ihr Gewicht
Doch satt war sie auch jetzt noch nicht

Voller Gram und Bitterkeit machte der Zorn sich in ihr breit
Geplagt von der Besessenheit nahm sich selbst sie in die Pflicht
Verschlingen will ich ganz die Welt, dass kein Boden mehr mich hält
Fort mit der Leere, die mich quält, keine Gnade, kein Verzicht
So werd ich alles Sein verschlingen, die Lüfte, sein mein Hauptgericht
Denn satt bin ich noch immer nicht

So fortfuhr sie mit den Gräueltaten, fraß sich vor zum Villagarten
Fraß durchs Tor zum Unbekannten, immer weiter fort vom Licht
Kam ins Dorf, um zu dinieren, alle Schreie ignorierend
Labte sie sich schmatzend gierend, an dem lebend Fleischgericht
Fraß jeden, Mutter Vater Kind, ob Heiligen ob Bösewicht
Und satt war sie noch immer nicht

Kein Leben wird sie je verschonen, flieh’n soll sich für niemand lohnen
Alle Existenz am Boden, verschlingend bis aufs letzte Blatt
So rächt sie sich an unsren Leben, da in die Lüfte sich erheben
Wonach alle Falter streben, die Gier es ihr verwehret hat
Doch soll sie niemals Friede finden, niemals enden soll ihr Pfad
Denn ihre Seel ist nimmersatt



Entstanden bei der 5. Ausgabe von „Deis und Ella lesen Dinge vor“. Thema: Schocktober (2022)

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