Traumhaft schön

„75 cent“,

„So günstig?“, wunderte sich die Frau

„Ja weil Sie es sind“, entgegnete der Eisverkäufer, zwinkerte, ohne zu wissen wieso, und schaute noch lange in die Richtung, in der seine Kundin nun zufrieden ihre fünf volleyballgroßen Eiskugeln auf dem Pappteller zu ihrem Strandkorb balancierte.

 

Irgendetwas schien ihm an diesem Bild nicht ganz stimmig zu sein, aber er hatte keine große Lust, sich darüber Gedanken zu machen, denn ihn überkam in diesem Moment ein Gefühl der Liebe für alles. Er spürte den warmen Wind in seinem Gesicht, er blickte auf weißen Sand, auf Palmen und türkises klares Wasser. Er lauschte dem Rauschen der Meereswellen, den fernen Rufen der Möwen und einer sanften engelsgleichen Stimme, die eine zarte Melodie säuselte. Er verspürte das große Verlangen seine Begeisterung für den Moment, mit jemandem zu teilen. Er schaute sich um. Außer der Kundin waren nicht viele Menschen am Strand. Und die, die dort waren, schienen damit beschäftigt zu sein, die immergleichen sinnlosen Bewegungen ständig zu wiederholen und die gleichen Strecken wieder und wieder abzulaufen. Nun, mit irgendjemandem müsste man hier doch eine Unterhaltung führen können. Er sprach einen Strandbesucher an, der direkt neben seinem kleinen Eisstand entfernt gegen eine Palme lehnte. Auch wenn dieser mit seinem leeren Blick in die Ferne nicht sonderlich gesprächig wirkte.

„Hey du, ist das zu fassen, wie wunderschön es hier ist?“, fragte der Eisverkäufer,

Der Strandbesucher wandte seinen ausdruckslosen Blick langsam zu dem Budenbesitzer, blinzelte mehrmals, runzelte die Stirn, schüttelte sich ein wenig und blickte sich langsam um. Etwas in ihm schien zu erwachen, seine Augen leuchteten, als er schließlich antwortete: „Ja, schon echt schön.”

„Ja, oder? Dieser Sand. So weiß. Guck sich das einer an.“,

„Oh ja“, stimmte der Strandbesucher zu, beugte sich langsam zum Boden herab, füllte seine zu einer Schale geformten Hände mit dem Sand, richtete sich wieder auf und beobachtete mit offenem Mund, wie er zwischen seinen Händen wieder zu Boden rieselte, „Sand. Schöner Sand.“,

„Ich sags dir“, bemerkte Eisverkäufer, „ohne jetzt überall gewesen zu sein, aber ich bin mir sicher, das hier ist der schönste Strand der Welt. Bestimmt.“

„Bestimmt“, pflichtete Strandbesucher ihm bei, während er sich weiter umsah, „und dieses Bergpanorama ist auch sehr beeindruckend.“.

Der Eisverkäufer blickte seinen Gesprächspartner fragend an, lehnte sich dann aus seinem Ladenfenster heraus und blickte an seiner Bude vorbei nach hinten, wo er auf grüne Hügel, dichten Nadelwald und eine große Weide blickte, auf der einige Kühe vergnügt umhertänzelten. Hinter dieser Szenerie erhob sich eine gigantische Bergkette.

 

„Oh ja, Mensch guck, eine Alm. Das sieht man in der Tat nicht allzu häufig einen Meter vom Strand entfernt“,

„Praktisch aber“, fügte der Strandbesucher hinzu, „Wenns hier am Strand doch mal zu heiß wird, kann man sich unter den Fichten abkühlen. Und wenn man lange Wandertouren in den Bergen hinter sich hat, kann man sich hier im Sand ausruhen. Hach, schöner Sand.“,

„Ja ja ja, es ist alles wundervoll. Hier leben und arbeiten zu dürfen ist einfach das größte Geschenk.“,

„Fast zu schön, um wahr zu sein, was?“,

„Oh ja“, lachte der Eisverkäufer, „Fast zu schön um wahr …“,

Er betrachtete die Berglandschaft eine Weile, wandte seinen Blick dann wieder in Richtung Meer, wo seine Kundin, deren Strandkorb nun eine Picknickdecke war, gerade die Pommes verspeiste, in die sich ihre letzten beiden Eiskugeln verwandelt hatten, dann schaute er den Strandbesucher an, der ebenso wie er selbst in angestrengtes Grübeln vertieft zu sein schien.

„Ich träume gerade, oder?“, fragte Eisverkäufer traurig,

„Du? Also ich dachte gerade eigentlich, dass … also dass ich vermutlich … nunja“

„Hm …“, die beiden sahen sich an, dann blickten sie sich um.

„Sie“, rief Strandbesucher schließlich und deutete auf die junge Frau, deren letzte Pommes verspeist war und deren Picknickdecke nun eine zwischen zwei Palmen gespannte Hängematte war, „Sie träumt.“

„Ja, natürlich“, stimmte Eisverkäufer zu, überwältigt von der plötzlichen Gewissheit, „natürlich ist sie es. Ich glaube, ich existiere sogar erst, seit ich ihr das Eis verkauft habe. Ist das normal?“,

„Dass du ihr Eis verkauft hast?“,

„Nein nein, dass Randfiguren eines Traums ein Bewusstsein haben?“,

„hm, ich weiß es nicht. Die anderen scheinen keines zu haben“, sagte Strandbesucher und schaute sich die leeren Gesichter der übrigen Anwesenden an. Sofern diese Gesichter hatten. Es schien Menschen zu geben, die bestanden nur aus einer der Träumerin zugewandten Rückseite. „Ich denke nicht, dass es normal ist. Sie muss sehr intelligent sein.“,

„naja“, sagte Eisverkäufer entschlossen, „also wenn sie hier die Einzige ist, die überhaupt Eis kaufen würde, dann brauch ich hier auch nicht länger in meiner Bude stehen. Ehrlich gesagt, hier gibt es nicht mal Eis. Ich hatte wohl nur das, das ich ihr schon verkauft habe. Lass uns näher ans Meer gehen, oder?“,

„Ohja sehr gerne“, freute sich Strandbesucher.

Eisverkäufer stieß euphorisch die seitliche Wand seiner kleinen Bude auf, doch statt herauszuschreiten plumpste er mit einem überraschten Aufschrei kopfüber in den Sand.

„Na großartig. Na toll. Ist ja super. Das kann ich ja jetzt gebrauchen.“, schimpfte er.

„ohje, was ist denn passiert?“,

„Na offensichtlich existiert nicht alles von mir. Sie hat nur den Teil von mir erträumt, den sie durch das Verkaufsfenster gesehen hat. Dementsprechend habe ich allen Anschein nach keinen Unterkörper.“,

„Ach, das ist ja blöd“,

„Ja und einen Rollstuhl oder sowas hat sie auch nicht irgendwo in die Nähe geträumt, diese priviligierte, ignorante …“,

„versuch doch einfach mal, dir selbst Beine wachsen zu lassen.“,

„Was?“,

„Naja luzid träumen eben. Sie versucht zum Beispiel auch öfter mal, in ihren Träumen zu fliegen. Und manchmal funktioniert es. Vielleicht, wenn du dich konzentrierst, kannst du dir Beine wachsen lassen.“

Eisverkäufer kniff die Augen zu, legte sich die Hände an den Kopf und versuchte sich angestrengt vorzustellen, wie ihm weitere Extremitäten wuchsen.

„ES KLAPPT“, rief Strandbesucher, und Eisverkäufer riss die Augen auf und schaute an sich hinab. Mittig an seinem flach endenden Torso ragten nun zwei lange Würmer, die mit je einem klobigen Stiefel endeten. Nicht ganz, was er sich erhofft hatte, doch als ihm klar wurde, dass sich diese neuen Spaghettibeinchen bewegen ließen, richtete er sich langsam auf und stellte zufrieden fest, dass sie sein Gewicht tatsächlich trugen.

„Na ich schätze, das ist besser als nichts. Gehen wir.“

Die beiden spazierten durch den Sand Richtung Ufer. Eisverkäufers Oberkörper wippte immer mal wieder gefährlich zur Seite, doch die ausholenden Bewegungen seiner Beinchen ließen ihn nicht im Stich. Sie blieben einige Meter neben der Träumerin stehen und schauten neugierig in ihre Richtung. Für einen Moment begegneten sich die Blicke, was die beiden Männer mit einem verlegenem Lachen und freudigem Winken kommentierten. Sie nickte freundlich, wenn auch mit skeptischem Blick, drehte den beiden dann ein wenig den Rücken zu.

Die beiden Männer schauten zum Horizont und tiefe Glückseligkeit erfüllte sie.

„So lässt es sich aushalten.“

„ohja.“

 

Ein ohrenbetäubender schriller Piepton riss die beiden aus ihren Gedanken.

„WECKER!“, schrie Eisverkäufer. Todesangst erfüllte beide. Die Träumerin machte ein verknautschtes, leidiges Gesicht und blinzelte mehrmals. Mit jedem Mal, das sie die Lider aufschlug, schien die Welt, um sie herum von anderen Formen und Farben überlagert zu werden. Der Strand und auch sie selbst verblassten langsam, dafür traten weiße Raufaserwände, ein großer Schrank, ein Bett, und beklemmende Dämmrigkeit immer deutlicher in den Vordergrund. Im Affekt stürzte der Eisverkäufer auf die Träumerin zu, zog sie aus ihrer Hängematte in den Sand und umschloss ihren Kopf, sodass seine Oberarme ihre Ohren, und seine Unterarme ihre Augen verschlossen. Tatsächlich wurde der grelle Piepton leiser und die unheimliche Räumlichkeit verblasste wieder ein wenig, doch die Träumerin schrie und fuchtelte wild mit ihren Armen, konnte ihren Angreifer jedoch nicht abschütteln.

„Was tust du?“, rief der Strandbesucher,

„Ich will nicht enden!“, bekam er vom Eisverkäufer zur Antwort. Strandbesucher stand ratlos dort, wusste nicht, ob er einschreiten, oder den Verkäufer unterstützen wollte.

 „Jetzt steh doch nicht nur so rum, halte ihre Arme fest!“, rief der Eismann

Strandbesucher, dankbar für diese klare Anweisung, beschloss, erstmal einfach zu gehorchen. Er eilte dazu, packte die Handgelenke der Frau und drückte sie zu Boden, während er leise „’tschuldigung ’tschuldigung ’tschuldigung“, wimmerte.

„Der Wecker müsste links neben ihr stehen!“, rief Eisverkäufer.

Natürlich tut er das, dachte sich Strandbesucher, erneut irritiert von dem irgendwie vorhandenen Wissen über alles Mögliche. Er hob den linken Arm der Frau und schlug mit ihm etwa auf der Position in die Luft, wo er das piepende Scheusal außerhalb des Traumes vermutete. Es funktionierte. Das dumpfe Schellen des Weckers verstummte. Doch die heiser werdenden Schreie der Träumerin störten noch immer das Idyll des wunderschönen Berggipfelstrandes.

Eisverkäufer löste die Umklammerung ihrer Ohren und Augen, und hielt ihr stattdessen mit beiden Händen den Mund zu. Strandbesucher warf ihm und ihr abwechselnd flehende Blicke zu. Er war erschüttert über die skrupellose Entschlossenheit, mit der sein Kumpane handelte, hing selbst jedoch zu sehr an seinem neuen Leben, als dass er ihn aufhalten wollte. In seiner Verzweiflung wandte er sich an die Frau: „Es tut uns Leid, wir wollen dir nicht wehtun, wir wollen doch nur nicht, dass du aufwachst, wir wollen weiter sein.“

„Überleg doch mal, willst du denn wirklich aufwachen?“, griff Eisverkäufer den Faden auf, „schau dich um, du bist hier im Paradies. Wenn du aufwachst, musst du ins Büro. Du hasst deinen Job. Bleib einfach hier. Selbst wenn du da draußen Urlaub machst, es wird nie so sein wie hier. Nirgendwo wirst du so einen blauen Himmel sehen, so weichen Sand spüren, in so erfrischendes Meerwasser eintauchen. Die Realität kann hiermit niemals mithalten. Bleib einfach hier!“ Tatsächlich wurden ihre Bewegungen ruhiger. Vorsichtig ließ erst Eisverkäufer und schließlich auch Strandbesucher von ihr ab. Sie schnappte nach Atem und richtete sich halb auf, ließ ihren Blick durch das Idyll wandern, als ein weiterer Lärm erschallte. Eine dumpfe, undeutliche Stimme rief etwas wie „Schasssswachaaaauf!“

Ihr Blick schien sich zu schärfen und der verschwommene Umriss einer weiteren Gestalt manifestierte sich vor ihrem Gesicht. „NEIN!“, rief der Eisverkäufer und stürzte sich erneut, mit noch skrupelloserer Entschlossenheit auf die Träumerin, „Bleib hier, bleib hier! Denk an den Strand, die Berge, VOLLEYBALLGROSSE EISKUGELN!“. Erneut umschloss er ihre Augen und Ohren, und erneut schrie sie laut auf und wehrte sich mit Händen und Füßen. Strandbesucher stand verloren da, griff sich an den Kopf und beobachtete den Kampf mit steigendem Entsetzen. Schließlich schloss er selbst die Augen, presste sich die Hände auf die Ohren und hoffte, dass dieser Schrecken bald, auf welche Weise auch immer, ein Ende finden möge. Es vergingen Minute, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen. Dumpf drangen weiter ferne Rufe an sein Ohr, er bildete sich ein, dass es mehr Stimmen wurden. Gerumpel, Quietschen, Rufen und irgendwann hörte er ein durchgehendes, nicht endendes Fiepen in seinem Kopf. Als er bemerkte, dass unter all dem Lärm, der an sein Bewusstsein drang, die Schreie der Träumerin verstummt waren, wagte er es, die Augen wieder zu öffnen. Sie lag auf dem Boden, Eisverkäufer kniete schwer atmend und zitternd neben ihr und hielt ihr erneut den Mund zu. Strandbesucher schlug sich leicht auf die Ohren in der Hoffnung dieses durchgängigen Pfeifen loszuwerden. Es half nicht, doch wurde der Ton kurz darauf jäh von einem dumpfen Knall unterbrochen, der die gesamte Traumwelt, vor allem aber den Körper der Träumerin erbeben ließ, ehe es sich wieder legte und das lange durchgehende Piepen wieder einsetzte. Immer wieder wurde das Piepen von einem Knall und einem Beben unterbrochen. Strandbesucher schaute sich um und stellte fest, dass von allen Seiten eine tiefe Finsternis wie eine dichte schwarze Nebelwand aufwaberte, die sich langsam in Richtung der Drei ausbreitete. Dabei verschlang sie immer mehr von der herrlichen Welt, die zu bewahren doch der einzige Wunsch der beiden Geträumten war. Endlich begriff Strandbesucher, was gerade geschah. Er stürmte auf seinen Freund zu und rammte ihn mit seiner Schulter zur Seite. Eisverkäufer konnte das Gleichgewicht mit seinen Spaghettibeinen nicht halten, und kippte seitwärts in die noch verbliebenen Reste des Sandes. „Was tust du, sie beruhigt sich doch gerade!“, rief der Eisverkäufer erbost, erst dann bemerkte er das alles zersetzende Nichts, das nun bereits einen engen Kreis um die Drei geschlossen hatte.

„Sie kann nicht atmen!“, schrie Strandbesucher seinen Gefährten an, und tatsächlich, sobald Eisverkäufer sie nicht länger in seinen Händen hatte, ließ die Frau ein schwaches Röcheln vernehmen. Die beiden Männer fassten sich an den Händen und starrten sie mit angehaltenem Atem an. Piiiiiiiiiiiiiiiiiiiiie – ein weiterer Knall, ein weiteres Mal erbebte ihr Körper und bebte die Welt. Dann – Piiiiiiep – Piep – Piep – Piep

Sie lag ganz ruhig da. Sie öffnete ihre Augen und schaute verschlafen in den Himmel. Auf ihrem Gesicht machte sich ein leichtes Lächeln breit. Die Wolke der Finsternis zog sich zurück und offenbarte wieder den traumhaften Strand, ebenso wie das ruhigen Bergpanorama dahinter. Es schien sogar alles noch ein Stück wohliger, reiner und einfach noch traumhafter zu sein, als zuvor. Es war nahezu perfekt. Nur das regelmäßige „Piep – Piep – Piep – Piep …“ blieb zu hören.

 

„Nun“, sagte der Eisverkäufer und ließ sich in den weichen Sand fallen, „daran werden wir uns gewöhnen.“

 

ENDE

 

Entstanden für die 4. Ausgabe von „Deis und Ella lesen Dinge vor“. Thema: Urlaub
#LesiDinge

 

 


 

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