Glück und Leid
Geteiltes Leid ist halbes Leid. Und Glück ist das Einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt. So hatte man es ihm als Kind immer zu erklären versucht. Seltsamerweise hatte er stets die Erfahrung gemacht, dass, wenn immer ihm Schmerz zugefügt wurde, und er dieses Schmerzerlebnis weitergab, sein Gegenüber eher noch mehr Leid empfand als er selbst, und sein Eigenes dabei gar nicht weniger wurde. Er hätte es in seiner wilden Jugend durchaus begrüßt, wenn durch einen Faustschlag ins Gesicht seines Gegenübers das eigene gebrochene Nasenbein nur noch halb so gebrochen gewesen wäre. So ein Vorgang ließe sich dann spielend leicht so oft wiederholen, bis nur noch ein zu vernachlässigender Haarriss im eigenen Knochen übrig blieb, der sich innerhalb kurzer Zeit einigermaßen schmerzfrei erledigen würde.
Und was die Sache mit dem Glück anging … Oft war es so, dass Dinge die er tat, weil sie ihn glücklich machten, seinem Umfeld eher Unmut bereiteten. Auch wenn das sein persönliches Glück nicht schmälte – würde man in die Rechnung das Glück aller Anwesenden einbeziehen müssen, so ginge die Formel ganz und gar nicht auf.
Er räumte aber ein, dass es, je nach Auslegung, Situationen gab, wo sich die Verdoppelungs-Regel durchaus anwenden ließ. Teilte man sich beispielsweise einen Lotterieschein mit einer weiteren Person, würden sich die Gewinnchancen verdoppeln. Die Rechnung funktionierte. Irgendwie. Sofern man sowohl Lotterielos als auch Gewinnchance als Faktor Glück definiert. Man könnte allerdings auch die Rechnung für das Lotterielos als Leid betrachten, da Geldaufwand ohne garantierten Nutzen kein sonderlich angenehmes Unterfangen war. Dann wäre man hier doch bei geteiltem Leid und daraus resultierendem doppeltem Glück. Zumindest bei doppelter Glückschance, und die ist in der Lotterie bekanntlich ohnehin vernichtend gering.
Für den Fall eines Gewinns empfiehlt es sich natürlich, dass man geistesanwesend genug war, sich beim Teilen der Rechnung die Rolle der Person gesichert zu haben, die für die Auswertung des Lottoscheins verantwortlich sein würde. So könnte man sich, durch Umgehen moralischer Korrektheit, das tatsächlich doppelte Glück sichern. Hat man jene wichtige Rolle aber abgegeben, oder ebenfalls geteilt, so bräuchte es den zusätzlichen Aufwand, den Träger der halbierten Rechnung verschwinden zu lassen. Aber das hätte dann ja nur wenig mit dem unsinnigen Teilen-Spruch zu tun. Es wäre schließlich vielmehr eine Subtraktion als eine Division. Also Verdoppelung durch Subtraktion. Das sollte man Kindern sagen. Manche Dinge verdoppeln sich, wenn man 100 % eines zusammenhängenden Faktors von jenem abzieht. Aber daran denkt wieder keiner dieser Kluge-Sprüche-Teiler. Typisch.
Nun, mit so etwas wie der Lotterie musste er sich zum Glück in der Realität nicht auseinandersetzen, da er bereits über unerschöpflichen Reichtum verfügte, doch er genoss solche Gedankenspiele. Er kam zu dem Schluss, dass diese beiden Regeln letztlich nur funktionierten, wenn man sich die Faktoren Leid und Glück großzügig selbst definiert. Rein logisch betrachtet bleibt es eindeutig: Wenn man Dinge teilt, hat man mehrere, aber kleinere Dinge. Teilt man einen Kuchen, hat man viele kleine Kuchenstücke. Teilt man einen Mantel, hat man zwei halbe Mäntel, mit denen dann zwei Leute frieren. Dumm. Teilt man Arbeit, müssen mehr Leute weniger arbeiten. Nicht so dumm. Aber er zog vor, dass mehr Leute mehr arbeiten. Teilt man Macht, hat man mehr Leute mit je weniger Macht. Weshalb er selbst eher sparsam mit dem Aufteilen seiner Führungsaufgaben umging. Er war ja nicht dumm, denn ja, dieses Machthaben machte ihn glücklich. Es war eines dieser Glücke, die sich nicht verdoppelten, wenn man alle betroffenen Mitmenschen in die Rechnung einbezog. Tatsächlich kam ihm immer wieder zu Ohren, dass es Teilen seiner Untergebenschaft recht elendig zu Mute war, seit er vor vielen Jahren das Ruder übernommen hatte. Er konnte sich das nur mit Undankbarkeit erklären. Oder Unwissenheit? Denkbar, dass sie ihn nicht gut genug kannten, um ihn so innig zu lieben, wie er es verdiente. Er war schließlich wunderschön, bärenstark, stolz, männlich, patriotisch, entschlossen. Blickte er in den Spiegel, empfand er beinahe so etwas wie Mitleid. Mitleid für all jene, die nicht in den Genuss kamen, jenes Antlitz erblicken zu können, wann immer sie eine reflektierende Oberfläche passierten. Als Linderung dieses Leids ließ er Straßen und Gebäude mit heroischen Bildnissen seiner selbst behängen. Keine Straße sollte man durchqueren, ohne in sein erhabenes Gesicht zu blicken. Man schien jenes Geschenk allerdings nicht zu würdigen. Nun, dies könnte natürlich ein ungewollter Nebeneffekt davon sein, dass er seinem Volk nicht, oder nur sehr umständlich ermöglichte, sich über die Machthabenden anderer Länder zu informieren. Andernfalls wüssten sie, wie sehr diese seiner Person in sämtlichen Belangen unterlegen waren. Teilweise waren es nicht einmal Männer. Er meinte es nur gut, mit dem begrenzten Wissen über benachbarte Länder, denn jene Informationen würden seine Untergebenen lediglich irritieren und überfordern, die ja bereits alles, was sie zu wissen und zu glauben brauchten, hier hatten.
Er dachte selbst nur ungern an diese undankbaren Nachbarn. Sie, die jene Dinge stets dankend annahmen, mit denen die Natur in ihrer Besonnenheit sein Land, und somit ihn selbst, reich beschenkt hatte. Andere Dinge, so bemängelten jene Nachbarn, seien in seinem Reich nur unzureichend vorhanden.
Meinungen zum Beispiel. Wo andere Regierende ihn immer kritisierten, dass es um die Meinungsfreiheit in seinem Hoheitsgebiet schlecht bestellt sei, betrachtete er selbst sich hier als äußerst großzügig. Denn er teilte. Er teilte die Meinungsfreiheit. Wodurch sich seine Bevölkerung nicht nur mit diesem abstrakten einen großen „Alles“ auseinandersetzen musste, sondern viele, viele verschiedene Dinge hatte, über die sie je ein bisschen Meinung äußern durfte. Super.
Und doch, diese und weitere Großzügigkeiten, schienen nicht gewürdigt zu werden. Er musste eben akzeptieren, dass seine Ameisen, wie er das eigene Volk gerne liebevoll nannte, teilweise sehr dumm, naiv, oder schlimmer noch, idealistisch waren. Sie gingen teilweise auf die Straßen und forderten Freiheit und Menschenrechte, obwohl auch diese ihnen doch bereits großzügig geteilt wurden. Sie forderten Gnade, was ja an Ironie kaum zu übertreffen war. Wer fordert denn Gnade, im selben Augenblick, wie er seinem Gönner ein Messer in den Rücken rammte?
In jenen Unzufriedenheiten vermutete er den Einfluss der bereits erwähnten Nachbarn. Seine Bemühungen, Informationen über sie nicht über die eigenen Grenzen geraten zu lassen, schienen nicht ausreichend. Denn manche seiner Schäfchen, wie er das eigene Volk liebevoll nannte, wenn ihm das Wort „Ameise“ gerade nicht einfiel, schienen über deren teils wilde, gottlose und undisziplinierte Lebensart bestens Bescheid zu wissen und sie für tatsächlich erstrebenswert zu halten. Der Lebensstil, wo beispielsweise an altbewerten Rollenbildern gerüttelt wird. Ja, sie werden quasi geteilt. Und nicht dass er was dagegen hatte, dass es mehr Teile Männlichkeit gäbe, aber doch bitte nicht kleinere. Dieser Lebensstil, wo propagiert wird, dass alle Menschen die gleichen Rechte besäßen, und jenen, die sich dadurch verdient gemacht haben, sehr viel Reichtum anzuhäufen, nicht mehr zustünde, als den anderen. Sie wollen Wohlstand für alle, sind jedoch offensichtlich nicht im Stande, die Regeln des Teilens zu begreifen, sonst sähen sie, dass er, würde er seinen Reichtum teilen, weniger hätte als zuvor. Sie müssten doch verstehen, dass das nicht ginge. Dumme Ameisen.
Zum Glück war er weise genug, dank seiner philosophisch wie rein mathematisch genialen Gedankenspielen, das Thema Teilen in Gänze, also vollkommen ungeteilt verinnerlicht zu haben. So begriff er, wie mit jenen Undankbaren umzugehen war, die sein Genie nicht zu würdigen und zu respektieren wussten, bzw. mit jenen, die seinem perfekten Wertebild nicht so recht entsprechen wollten. So verfuhr er mit ihnen, wie es ihn einst ein weiser Mann, er selbst nämlich, gelehrt hatte: Manches Glück verdoppelt sich, wenn man 100 % eines zusammenhängenden Faktors von jenem abzieht. Subtraktion. Den Maßnahmen, die er für jenes edle Vorhaben in die Tat umsetzen ließ, folgten oft Phasen wachsender Unzufriedenheit und Auflehnung, was sich nur als sonderbarer Zufall erklären ließ. Eine Kohärenz war besten Gewissens auszuschließen, da dies ja bedeuten würde, dass seine eigene Weisheit fehlerbehaftet wäre.
Seine verdiente Liebe zu sich selbst, sein tiefer Glaube an seine Weisheit und Führungsqualität gaben ihm die Gewissheit, dass er alles unter Kontrolle hatte. Ein paar Fehlgeleitete. OK. Dass es stetig mehr werden, das musste Einbildung sein. Es würde sicher nichts passieren. Sein Volk liebte ihn. Offensichtlich – schließlich hatten sie ihn ja selbst gewählt. Zumindest, wenn man sich die Faktoren einer demokratischen Wahl großzügig selbst definiert.
Entstanden bei der 6. Ausgabe von „Deis und Ella lesen Dinge vor“. Thema: Teilen
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