Vom treuen, leicht scheuen, stets freundlichen Eumelchen
Dies ist die traurige Geschichte des stets freundlichen Eumelchens. Nebst aufbrausenden lauten und rauen Rabauken wirkte er immer eher erträglich. Dies kam nicht von ungefähr, so hatten seine ihn zwar liebenden doch sehr gläubigen, ihn streng beäugenden Erzeuger ihn immerzu maßgeregelt. Es galt von klein auf gefällig, bloß nicht wütend oder sonst wie auffällig, nicht grummelig oder gar gemein zu sein. Wenn es Kind-Eumelchen einmal nicht gelang, jenen Anforderungen zu entsprechen, wussten seine Erzeuger ihn, zwar nicht mit Wut, jedoch mit Enttäuschung, zu brechen. Das Kind lernte, dass wenn immer schlechte Stimmung das Umfeld prägte, dies wohl auf sein unangenehmes Verhalten zurückzuführen war. Und um dies zu vermeiden, um den Menschen zu dienen und dem Familienbild nicht zu schaden, hatte er bald gelernt, seine Tugendhaft zu akzeptieren und sich in ihr als angenehmes Wesen, das niemanden je störte, seinen Platz in der Gesellschaft zu sichern.
Mit Erfolg. Als erwachsener Eumel wurde sein Wesen für seine Unauffälligkeit und Belastbarkeit hoch geschätzt. Wobei „hoch geschätzt“ doch recht große Worte sind. Treffender ließe sich sagen, er wurde aufs Angenehmste nicht bemerkt. Man lernte schnell, dass Eumel ohne Beschwerden gerne Gefallen tat, wann immer man ihn um einen bat, und dass er ohne zu streiten, Ärgerlichkeiten und kleine Alltagsungerechtigkeiten still mit einem kleinen Lächeln bewältigte. Drängelte man sich an der Kasse vor, hauchte er ein heiseres „Hehe“, und wich ein Schrittchen zurück, um seinen neuen Vordermenschen nicht zu bedrängen. Fragte man in Kolleg*innenrunde nach freiwilligem Übernehmen der undankbarsten Jobs, so bemerkte er gleich die stets auf ihn ruhenden Blicke, und fügte sich dem Wunsch der Allgemeinheit, die schwierigsten und nervigsten Aufträge allein auf seine Schultern zu laden. „Nun okay“, zwitscherte er in solchen Momenten, „zwar bin ich bereits recht ausgelastet, jedoch, wenn ihr früher dem Feierabend frönen wollt, dann kann ich dies natürlich verstehen.“ Solche und ähnliche Momente meisterte er stets mit munterer Mine.
Denn wann immer dem Eumel negative Gedanken entsprangen, seien sie gegen Umstände oder Unmenschen gerichtet, hatte er gelernt, jene in den tiefsten Schubladen seines Hirns einzusortieren, um sie dort zu belassen, bis die weit frommeren Gedankenakten, die frevelhaften unauffindbar machten. Ab und zu überlegte Eumelchen ob Schreddern der Papiere nicht vielleicht die dienlichere Metapher, beziehungsweise Methode gewesen wäre, statt dem bloßen Wegsortieren, doch neben Eumelchens Freundlichkeit, zierte ihn noch die Eigenschaft, Dinge sowohl im Geiste als auch der irdischen Welt, nur ungern fortzuwerfen, da es zum Beispiel immer geschehen könnte, dass Weggeworfenes von anderen Menschen eines Tages schmerzlich vermisst würde. Und wenn Eumelchen nun manchmal daran dachte, dass die negativen, wegsortierten, aber doch nicht vergessenen Gedanken möglicherweise irgendwann keinen Platz mehr in den Schubladen fanden, machte ihm das kurz Angst, doch nur so lange, bis er eine Schublade mit gerade genug Platz für jene Angst in seinen Hirnwindungen fand, und diese dann dort verschwand. Beziehungsseie – nun – zumindest abgelegt wurde.
Hätte er jene Ängste etwas präsenter platziert, wären spätere Geschehnisse womögliche nicht eingetroffen, doch es war wie es war, und so geschah es eines Tages, dass ihm stetig das Augenlid zuckte, sein Magendarmtrakt hörbar gluckte und sein Nacken ihn schmerzlich abfuckte. Sicher, so schloss er, habe er am Vortag etwas falsches gegessen und unergonomisch gesessen. So wie er es täglich schloss. Seit 40 Jahren. Den Lid, Darm und Nacken taten ihn eigentlich bereits seit Jahren abfucken. An jenem Tage aber hatte er größere Mühe als gewöhnlich, die Welt von seinen Befindlichkeiten zu verschonen, wie es sich für ein freundliches Eumelchen eigentlich schickte, wenn das Leben es fickte.
Als dann sein Chef an seinen Schreibtisch trat und ihm offenbarte, dass Eumels oft gecancelter Urlaub, der ihn nun, genehmigt vom Vorstand, endlich unmittelbar bevorstand, doch bitte ein weiteres Male verschoben werden musste. Denn Kollege Müller wolle in dieser Woche gern spontan ein wenig entspannen, Frau Meier wolle Müllers Aufgaben aus Prinzip nicht abfangen, Herrn Olaf wolle man nicht fragen, der saß so weit weg und wo Herr Schmitt war, wusste niemand so genau. Der macht wohl gerade blau. Chef selbst könnte Müllers Arbeit verwalten, doch wer würde dann noch den Überblick über all das Geschehen im Büroalltag behalten? Man sehe also, niemand als Eumel könne die hinterlassenen Aufgaben stemmen. Eumel hielt sich den murrenden Bauch und sammelte Kraft für ein Nicken und Lächeln, und betrat, wie er es immer tat, in Gedanken sein Hirnarchiv, schnappte sich die neue Urlaub-gestrichen-Akte und wollte jene in eine Schublade stopfen. Dann es geschah, was irgendwann wohl geschehen musste. Die Aktenschränke, die sich schon seit Längerem gefährlich wölbten, platzten unter der Last des letzten Eintrags. Alle Schubladen sprangen auf und ein Wind trug all die Akten durch die Windungen des Eumel-Schädels. Die Schränke, die Papiere in Gedanken wollten kein Gedankenspiel bleiben. Die Metapher manifestierte sich zur Megataffer und der Aktemsturm blähte Eumels Kopf auf dreifache Größe auf. Das Kollegium beobachtete voller Schrecken das Geschehen, der Chef, völlig überrumpelt von dieser unerwartet unschicklichen Reaktion seines Mitarbeiters, trat einen Schritt zurück, während Eumels Kopf mehr und mehr anschwoll, und sich sein Gesicht unter den umherwirbelnden Blättern immer entsetzlicher wölbte und waberte. Als er schließlich unter höchster Kraftanstrengung den Mund öffnete, um „Verzeihen Sie bitte diese Unannehmlichkeiten“ zu ächzen, schossen all die angesammelten Ungerechtigkeiten, Ungerechtfertigkeiten, Unzumutbarkeiten und sonstige Unheiten aus seiner Luke hinaus und fluteten das Großraumbüro mit Terror und Verwüstung. Die gigantische Zettelwirtschaft übersäte all die Anwesenden mit winzigen Papierschnitten, während die jahrelang gesammelte Schrift, mit Galle statt Tinte verewigt, sich aus den Pflanzenfasern löste und sich in einem zersetzenden Regen über den Vorgesetzten ergoss, dem unter gequälten Schreien der ohnehin schon recht lichte Haaransatz nun gänzlich wegschmolz, gefolgt vom Rest seines Kopfes, bis sein Körper statt mit dem Kopf, mit einem grün dampfenden Halsstumpf endete. Grollend ertönte eine dämonische Stimme, scheinbar von überall, die in ohrenbetäubender Lautstärke hinausbrüllte:
WILLST DU MICH KOMPLETT VERARSCHEN, DU ASOZIALER STINKENDER HAUFEN HUNDESCHEISSE? NACHDEM DU MIR GESTERN DAS DRITTE JAHR IN FOLGE MEINE BITTE UM EINE WINZIGE GEHALTSERHÖHUNG ABGELEHNT HAST, STREICHST DU MIR HEUTE ZUM XTEN MAL MEINEN URLAUB, WEIL PISSSPATEN MÜLLER SEINEN WICHS NICHT ORGANISIERT BEKOMMT? FICK DICH! FICKT EUCH ALLE! STECKT EUCH MÜLLERS BERICHT IN EURE WIDERLICHEN PICKELÄRSCHE, IHR WUNDGELUTSCHTEN FURZLURCHE! UND ÜBRIGENS HABE ICH SEIT EINER VERFICKTEN HALBEN STUNDE FEIERABEND UND ICH GEHE JETZT NACH HAUSE, OBS EUCH DRECKSMADEN PASST ODER NICHT!
Der Sturm legte sich. Stille kehrte ein. Eumel betastete seinen Kopf und fand ihn wieder auf Normalgröße zurückgeschrumpft. Ihm war leicht schwindelig und doch fühlte er sich so leicht wie nie zuvor. Zumindest für eine Sekunde. Bevor ihm bewusst wurde, wie unangenehm dieser emotionale Ausbruch wohl auf sein Umfeld gewirkt haben musste. Doch noch ehe er zu einer ausgedehnten Entschuldigung ausholen konnte, vernahm er ein langsames Klatschen aus hinterster Reihe. Kollege Olaf. Meier stimmte in das Klatschen ein, Dietrichs, Schmitz, Wilkinson, Schmitt nicht, keiner wusste, wo eigentlich Schmitt war, Flickerich, Winkelmeier, Willhemson, Beutlin, Knut, alle. Ein jubelnder, euphorischer Beifall ertönte und alle strahlten sie Eumel an. Anerkennend. Zu Tränen gerührt. Sie jubelten, sie trubelten, sie feierten die neuentdeckte Standfestigkeit ihres Kollegen. Und aus dem noch immer grün dampfenden Halsstumpf seines Chefs, dessen marineblauer Anzug, Himmelseidank unbeschädigt geblieben war, ertönte die schmatzende Stimme: „Ja gut, sie haben Recht. Wir finden da einen anderen Weg. Und wenn sie in Zukunft wieder etwas stört, geben sie bitte gerne früher Bescheid. Vielen Dank.“
Eumel nickte freundlich. Diesmal ehrlich. Er nahm die Hand seines Chefs, die ihm in neugewonnener Vertrautheit entgegengestreckt wurde und schüttelte sie herzlich. Nie wieder, so sagte er sich, würde er seine Hirnschubladen so dermaßen überladen. Nie wieder.
So hatte Eumelchen also letztendlich gelernt, für sich einzustehen, Ungerechtigkeit nicht stumm zu ertragen und für sein eigenes Wohlbehagen den richtigen Weg einzuschlagen. Jedoch hatte ich nicht eine traurige Geschichte versprochen? Nun – so denket einen Moment an die armen Eltern des miesen Unruhestifters, die sich doch nur gewünscht hatten, einen Menschen hervorzubringen, der sie auf ewig mit dem Stempel der moralischen Überlegenheit zieren würde. Und nun? Nun wagte Eumel individuelle Wege, Selbstfürsorge und stand für sich selbst ein, oder anders ausgedrückt. Eumel ward ein undankbarer Egoist. Wo kommen wir da hin? Wieso sollte man denn überhaupt Kinder bekommen, wenn diese sich nicht so entwickeln, wie man das möchte? Hat Eumel je darüber nachgedacht, wie er seine ehrwürdigen Erzeuger dastehen lässt? Schämen! Schämen sollte Eumelchen sich. Füllen, all die nun leer gewordenen Hirnlappenschubladen mit Scham und Schmach, und jene Akten dann bedecken mit neuer Ehrerbietung und Unterordnung gegenüber den Eltern und deren ja wohl völlig zu Recht an ihn gestellten Anforderungen. Wie schwer muss die Enttäuschung auf ihnen lasten. Das Leere Blatt Kind. Es ist beschmutzt. Mit Farben, Formen, verunreinigt durch den Eumeligen Pinselstrich, der nun so arg vom Ursprungsplan abweicht. Beinahe, so könnte man meinen, existiere jener Eumel fortan aus eigenem Antrieb und nicht mehr zur Selbstverwirklichung derer, die ihm einst das Leben schenkten. Traurig. Einfach nur Traurig.
Ende. Trauriges Ende.
Entstanden bei der 8. Ausgabe von „Deis und Ella lesen Dinge vor“. Thema: Was ist mit meinem Face?
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