Kein richtiger Junge

KI generiert mit Adobe Firefly

 

 

Denis (findet ihr unter dem handle @hirnbraten auf den üblichen Social Mediakanälen (behaupte ich mal)) und ich hatten am 29.10.2023 die zehnte Ausgabe unseres Geschichten-Vorlesestreams. Welch glückliche Fügung, dass die Jubiläumsausgabe ausgerechnet auf den Gruselmonat fiel. Also das naheliegende Thema: Grusel hoch 10

twitch.tv/hirnbraten

Ersteinmal, hier ein kleines Introvideo, das ich für den Stream gebastelt habe:




Und hier nun – meine Geschichte:


Kein richtiger Junge


Regungslos, die Gliedmaßen verdreht, lag er auf der hölzernen Tischplatte und starrte auf die Stelle am Boden, wo er lag. Seit Tagen. Ohne zu blinzeln. Musste er auch nicht, denn seine Augen benötigten keine Feuchtigkeit, um dauerhaft zu funktionieren. Trotzdem hätte er gerne Tränen gehabt. Er vermutete, das hätte ihm helfen können, aber sei es drum. Nur noch eine weitere Sache, die ihm verwehrt blieb. Nichts weiter.
Der Duft von Sägemehl wurde mit jeder vergangenen Stunde stärker von beißendem Verwesungsgeruch überdeckt. Er nahm den Gestank nicht wahr, und er konnte nicht wissen, was das in diesem Fall für ein Segen war. Er roch nichts. Hätte sein Vater ihm Löcher in diesen spitzen Pfahl gebohrt, der seine Nase darstellte, vielleicht wäre es dann etwas anderes, aber seine Nase diente nur dazu, ihm ein menschlicheres Aussehen zu verleihen. Und dann war da noch die Sache mit dem wachsen. Wenn er log. Welch grausame Ironie, dass dieser Zinken, der eigentlich dafür sorgen sollte, ihn menschlicher erscheinen zu lassen, ihn bloßstellte, wenn er einer der wohl urmenschlichsten Eigenschaften nachging. Unaufrichtigkeit. Er hatte miterlebt, wie all die Menschen um ihn herum sich selbst und andere belogen, betrogen, doch er selbst durfte das nicht? Er musste immer schon mehr leisten, als die anderen Knaben. Vorbildlicher sein. Braver sein. Damit sie ihn als einen der ihren anerkennen würden. Was sie nie taten. Was niemand je tat. Er blieb der Freak. Und die blaue Fee? Sie war nie wieder aufgetaucht, wie sie es versprochen hatte. Um das versprechen einzulösen, ihn zu einem richtigen Jungen zu machen, wenn er nur artig genug wäre. Er war artig. Sie kam nicht. Vermutlich hatte sie ihn einfach vergessen.
Der einzige Mensch, der ihn ehrlich und bedingungslos geliebt hatte, lag da nun seit Tagen tot vor ihm und zog immer mehr Getier in die Tischlerstube, eine immer lauter erschallende Kakophonie aus Fliegensummen, und dem fiepen, tappen und beißen gieriger Ratten, war alles, was er hörte.
10 Jahre waren vergangen, seit sein Vater ihn erschaffen hatte. 10 Jahre, in denen er, Pinocchio, um keinen Tag gealtert war. Sein Vater jedoch schon. Seltsam und verwirrend war es, mit anzusehen, wie Gepetto mit der Zeit immer langsamer geworden war. Ihm alles mühsamer zu werden schien. Bis ihn nun vor einigen Tagen endgültig der Schlag getroffen hatte. Und er von einem auf den nächsten Moment nicht mehr war. Pinocchio hatte sich seit dem nicht bewegt. Der anfängliche Schock war Resignation gewichen. Und aus dieser entsprang nun langsam eine Erkenntnis. Hatte er sich das Falsche gewünscht? Er hatte stets danach gestrebt, wie die anderen zu sein, doch wenn man einmal ehrlich war, so war doch eigentlich er die überlegene Art. Sein lieber Gepetto war von Schmerzen geplagt und letztlich vom Alter dahingerafft. Tod. Altern. Gebrechen. Verwesung. Pinocchio war davor gefeit. Wieso also sollte er ein richtiger Junge werden wollen? War es wirklich Strafe oder Unrecht der blauen Fee, ihm seinen Wunsch zu verwehren? Oder war es womöglich sogar ihre Gnade?
Pinocchio drehte knarrend seinen Kopf zur blind gewordenen Fensterscheibe. Er sah seine unmenschliche Holzfratze darin spiegeln. Doch war dort nicht noch etwas? Formten sich aus den Nebelschwaden da draußen zwischen den Bäumen nicht eine weitere Fratze? Ein blaues, vertrautes kaltes Frauengesicht, das ihm langsam grinsend mit weit aufgerissenen Augen zunickte, ehe es sich wieder im Dunstschleier des Waldes auflöste? Er hatte begriffen. Sein Zeichen erhalten. Er hatte bislang das falsche Ziel verfolgt. Er sollte nicht danach streben, ein richtiger Junge zu werden. Vielmehr sollte er den einzigen Menschen, der für ihn Liebe übrig hatte danken, indem er ihn, wie sich selbst, zu einem unrichtigen Jungen macht. Er stand auf, Schritt seinem Schöpfer entgegen, bereit nun das Blatt zu wenden und seinerseits zum Schöpfer zu werden. Der Kreislauf des Lebens. Ihres Lebens. Unüblich, aber vielleicht, hoffentlich, Prototyp der Familie, nein der Gesellschaft der Zukunft. Aber erst einmal einen Schritt nach den anderen. Die Gesellschaft solle warten. Für den Moment wollte Pinocchio nur eins. Seinen Papa zurück.
Er wusste nicht, woher er das Wissen über das folgende Vorgehen nahm. Es musste der Segen der Blauen sein. Sie wollte, dass er tut, was er tat. Und er wusste genau, was er zu tun hatte.

Schritt 1: Fixierung.
Die Verwesung musste gestoppt werden. Holzleim würde dazu funktionieren. Und davon gab es in der Tischlerei reichlich. An Fäden band Pinocchio seinen Vater an die niedrigen Gerüstbalken der Stube fest. So ähnlich musste Pinocchio wohl an seinem Kreuzstab gehangen haben, als Gepetto ihn gebaut hatte. Irgendwie schön. So hatte sein Vater sich früher um ihn gekümmert und nun konnte Pinocchio es ihm zurückgeben. Er schnitt ihn an den Füßen und an der Kehle an. Wie das Blut unten heraus rann, füllte er die Adern von oben mit dem Leim auf.

Schritt 2: Fort mit allem Unnötigen.
In seinem zweiten Leben würde Gepetto keine Leber brauchen. Keine Milz, keine Nieren, kein Magen. Pinocchio mistete all die Unnötigkeiten aus. Gepetto würde sich über den freien Stauraum später freuen. Und der alte Haushund freute sich über die ungewöhnliche Mahlzeit. Sein Hirn behielt der alte Tischler. Pinocchio würde es im nächsten Schritt noch haltbar machen.

Schritt 3: Anatomische Präparation
Haut und Fettgewebe musste entfernt werden, um die rein anatomische Strukturen freizulegen. Pinocchio brauchte eine ganze Weile dafür. So überlegen er als unrichtiger Junge auch war, es fehlte ihm Gegenüber den Menschen ein wenig an Feinmotorik. Doch er genoss es, seinem Papa so wohlig nah zu sein, während er ihn mit dessen Lieblingsschnitzmesser vorsichtig schälte. Nach ein bis zwei Wochen war das Werk getan.

Schritt 4: Entwässerung und Entfettung
Die restliche Feuchtigkeit und das Fett mussten weichen. Pinocchio wollte nicht, dass sein alter Herr doch noch irgendwann aus dem Inneren anfangen würde zu schimmeln. Es gab genug Lösemittel, das der Tischler zum Entfernen von Lacken verwendet hatte, in dem Pinocchio ihn jetzt zärtlich badete, bis auch der letzte Tropfen das Gewebe seines Vaters verlassen hatte.

Schritt 5: Eine Hülle aus Lehm
Es war ein Jammer, dass er seinen Vater nicht in Holz verwandeln konnte. Zu gerne hätte er mit ihm das gleiche Material geteilt. Doch er wüsste nicht, wie das zu bewerkstelligen sein sollte, also verpasste er ihm aus Lehm eine neue Haut, formte seinen Körper zur gewohnten Statur und gab ihm sein warmherziges Lächeln zurück.
Schritt 6: Zerlegung in Einzelteile
Die Leichenstarre und das Präparieren hatten nicht unbedingt zu Gepettos Beweglichkeit beigetragen. Pinocchio zersägte den Körper seines Vaters an all den Stellen, wo Gelenke dem Mann bislang Mobilität verliehen hatten.

Schritt 7: Glasur und Haar
Die Einzelteile überzog Pinocchio mit einem Klarlack. Bevor dieser getrocknet war, klebte Pinocchio Gepettos altes Haupthaar auf. Ein Glück, hatte er es aufbewahrt, und während der bisherigen Arbeiten als Mütze getragen.

Schritt 8: Mobilmachung
So wie der Lack getrocknet war, wurden die Einzelteile nun wieder zusammengefügt. An den meisten Stellen reichten einfache Scharniere, die er an die Körperteile nagelte. An einigen Stellen, wie zwischen Kopf und Hals kamen Kugelgelenke zum Einsatz.

Schritt 9: Neue Augen
Eine der ersten Spielzeuge, die Gepetto dem kleinen Pinocchio je geschenkt hatten, waren große Muranomurmeln mit rot geschwungenen Mustern, die im Inneren eingefasst waren. Pinocchio fand es nur passend, dass diese Gepettos neuen Augäpfel werden sollten. Und sie passten perfekt in die noch leeren Höhlen des präparierten Lehmschädels.

Finaler Schritt 10: Zwei Brüste, ein Herz
Gepetto hatte damals eine kleine Tür in Pinocchios Brust eingebaut, hinter dem er einen Pinienzapfen als Ersatz für ein organisches Herz platziert hatte. Ein Zapfen von dem Baum, aus dem Pinocchio geschnitzt war. Im Schuppen lagen noch einige weitere Zapfen dieser Pinie herum. Gepetto neigte zum Horten. Pinocchio suchte sich einen besonders hübschen und großen aus und baute ihn in Gepettos Brust ein.

Damit war das Werk vollbracht. Pinocchio setzte seinen Vater vorsichtig vor ihm hin und blickte ihn voller Sehnsucht an. Als eine Weile nichts geschah, schaute der Holzjunge wieder traurig aus dem Fenster und glaubte dort nach kurzer Zeit wieder in den Nebelschwaden ein bläuliches breites Grinsen einer Frau zu erkennen. Für einen kurzen Moment. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem langgezogenen Röcheln wieder zurück auf seinen Vater gelenkt. Das Röcheln klang elend, er wiederholte es wieder und wieder und manchmal wandelte es sich zu einem hohlen Stöhnen. Die Geräusche passten nicht, zu dem freundlichen Lächeln, das Gepettos Gesicht zierte. Doch Pinocchio hatte dem Mann auch keine Möglichkeit gegeben, nicht zu lächeln. Er wollte schließlich, dass sein Vater immer glücklich war. Und glückliche Menschen lächelten. Warum also, sollte er einen anderen Gesichtsausdruck haben? Bald erhob sich der unrichtige Gepetto noch ein wenig unbeholfen, betrachtete seine Gliedmaßen, testete all die neuen Gelenke durch, und richtete seine leuchtenden Murmelaugen schließlich, als er seinen verbesserten Körper begriffen zu haben schien, auf Pinocchio. Der Holzjunge viel dem Lehmmann um den Hals. Seine Umarmung wurde nicht erwidert, er hörte nur dieses raue Röcheln und Stöhnen. Sicher brauchte sein Vater noch eine Weile, um der spaßende und liebende Papa von früher zu werden.
Sobald sich Pinocchio ein paar Schritte von Gepetto entfernte, stellte er fest, dass dieser ihm folgte. Wortlos. Davon abgesehen unternahm er nichts aus eigenem Antrieb. Doch wenn Pinocchio ihm klare Anweisungen erteilte, befolgte der Tischler diese stets ohne Widerworte. Ein Weg, wie Pinocchio endlich zu seinen heißersehnten Umarmungen kam.
Als sein Vater auch nach Tagen bis auf sein Lächeln kein eigenes Zeichen für Zufriedenheit und Glück ausstrahlte, dachte sich Pinocchio, er wäre vielleicht glücklicher und ausgelassener, wenn er Mitpuppen hätte, die mehr wie er waren. Aus Lehm. Und das Geschenk der Unsterblichkeit nur an seinen Nächsten zu geben erschien ihm ohnehin ein wenig egoistisch.
Als er eines Tages die Bäckerin aus dem Dorf bei einem Spaziergang im Wald, ganz in der Nähe der kleinen alten Tischlerstube sah, lief er ihr entgegen und umarmte sie herzlich. Die Frau war immer schon sehr freundlich zu ihm gewesen. Und auch jetzt lachte sie, erwiderte die Umarmung. Sie freue sich, den Jungen zu sehen, sagte sie, und dass sie glaubte, er und Gepetto seien verreist, so lange, wie man sie im Dorf nicht mehr gesehen hatte. Ihr Lächeln verstarb, und sie verstummte mitten im Satz, als sie hinter dem Holzjungen nun auch den Lehmmann erblickte, der sich ihnen mit mechanischen Schritten näherte.
„Keine Angst“, flüsterte Pinocchio der Frau ins Ohr, „wir werden dir nichts tun.“ Seine spitze Nase schoss in die Länge und bohrte sich durch die Schläfe der Frau. Ein kurzer Aufschrei, dann war es vorbei. Fürs Erste. Es war ein Geschenk, ein Akt der Gnade, dachte sich Pinocchio. Bald schon würde sie stärker und besser sein, als vorher. Unsterblich. Er befahl seinem Vater, die Bäckerin in die Tischlerstube zu tragen. Dort würde Schritt 1 folgen.
Fixierung.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Die goldene Blutwurst

Vorläufiges Cover, Gedanken zum Projekt „Ibo“ und wer ist eigentlich Unella?