Ersthelfen Extreme


 

 

Ersthelfen Extreme

„… und was wäre in dieser Situation das Schlechteste, was man machen kann?“
„Gar nichts!“
„Soooo!“
Beate nickte und klatschte zweimal in die Hände, um die Teilnehmenden ihres Erste-Hilfe-Kurses für diese korrekte Chor-Antwort, zu belohnen. Wie jedes Mal hatte sie das auch diesem Kurs in den letzten drei Stunden mantrahaft eingetrichtert. Die Teilnehmenden belohnten sich ebenfalls. Mit Fiepsen, Nicken und teilweise überdeutlichem Augenrollen, das bei Sitznachbar*innen keinen Zweifel übrig lassen sollte, dass einem das sowieso schon von Anfang an und überhaupt schon seit immer klar gewesen ist.
Letztere waren für Beate immer die anstrengendsten Leute. Diese „Ich habe schon einmal 110 gewählt, ich kenn mich bestens aus und könnte diesen Kurs theoretisch selbst leiten!“-Fraktion. Da waren ihr sogar die „Ich will meinen Führerschein und brauch den Wisch dafür und sitze deswegen meine Zeit hier ab“-Leute tausendmal lieber. Also, vermutlich würden die das nicht so formulieren. Beate wusste nicht, wie 17-jährige von heute irgendwas formulieren würden: „Jo, Jo check das, ich will nur meinen Drive-Wisch an Start kriegen, deswegen muss ich hier in diesen Kurs. Voll Cringe.“, oder so. Aber vielleicht auch nicht. Durch ihre langjährige Erfahrung als Erste-Hilfe-Kursleiterin hatte die Sanitäterin viele Vorurteile abbauen können. Allerdings, das muss man wohl ganz ehrlich sagen, noch mehr dazugewonnen.

Sie vertrieb sich immer die Zeit vor den Kursen damit, die nach und nach eintrudelnden Teilnehmenden als gewisse Stereotypen abzustempeln. Je nach Aussehen, Alter, Geschlecht und am wichtigsten: Platzwahl, gliederte sie die Leute in folgende selbstbenannte Kategorien:

1. Die Experten: Die bereits erwähnte anstrengendste Gruppe. Sitzt in der guten alten U-Tischformation entweder an den vordersten Plätzen der Seite, und somit direkt neben der Kursleiterin, die als Kollegin auf Augenhöhe betrachtet wird, oder in der Mitte der horizontalen hinteren Reihe, also Beate direkt gegenüber. Ihr versteht. Direkter Augenkontakt. Mit der Kollegin auf Augenhöhe. Oft wird man von diesen Leuten ein zustimmendes „Ja!“, hören, womit sie freundlicherweise die Erklärungen der tatsächlichen Expertin bestätigen bzw. legitimieren. Oft ausgeschmückt mit Anekdoten eigener Heldentaten. Schüchterne Fragen und falsche Vermutungen anderer Teilnehmender, werden gerne mit einem Schnaub-Lacher kommentiert und sogleich lautstark korrigiert. Es gehört zu Beates größten Freuden im Leben, zu beobachten, wie das Feuer in den Augen jener Menschen erlischt und etwas in ihnen zu sterben scheint, wenn Beate, deren Fehler benennt und berichtigt.

2. Die Meerschweinchen: Meist auch auf den vorderen Plätzen zu finden. Diese Plätze können sich in der Regel problemlos sichern, da sie oft besonders früh vor dem Kurs erscheinen, und alles unter 20 Minuten vor Kursbeginn als „knapp dran“ bezeichnen. Beate begrüßte es natürlich stets, wenn der Kurs ernst genommen wird, diese Menschengruppe neigt aber dazu, es ein wenig zu übertreiben und sich gedanklich sehr in dramatische Situationen hineinzuversetzen. Ihr hektisches Gebaren, für das sie nach den quirligen Nagern benannt wurden, lässt dabei vermuten, dass sie in Notsituationen vermutlich nicht die souveränsten Akteur*innen wären. Fehlende Lernwilligkeit kann man ihnen nicht vorwerfen. Sie saugen die Informationen auf, und führen die praktischen Übungen ohne Murren, dafür oft leicht zittrig, aus. Schilderungen gefährlicher Situationen werden oft mit entsetztem Quieken kommentiert, das ebenfalls an die namensgebende Spezies erinnert. Ein alternativer Name für Kategorie 2 wäre auch „die Ohgottogottogottogotts“ gewesen.

3. Die keine Ahnung – Yolo-Homies oder so: Auch diese Kategorie wurde bereits anfangs erwähnt. Sie sind – wie Beate sagen würde – hipp. Sie sitzen in der hinteren, also der „coolen“ Reihe, aber nicht in der Mitte. Meist, wenn auch nicht ausschließlich Jugendliche, die einen Erste-Hilfe-Kurs als bürokratische Notwendigkeit absitzen wollen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie thematisch gar nicht involviert sind. Sei es wegen noch fehlender Reife oder tatsächlich ausgewachsenem Egoismus. Beate neigt dazu, sich aus dieser Kategorie gerne ihre Opfer für die ersten praktischen Demonstrationen zu picken. Damit macht sie erstens den nicht beteiligten Mit-Yolo-Homies eine Freude, die sich über das Bloßstellen ihrer Freund*innen lustig machen können, zweitens gibt es immer wieder diese schönen Momente, wo Beate dann doch einen Lerneffekt, bzw. eine Erkenntnis beobachten kann, dass es ja tatsächlich um das potentielle Retten von Leben geht. Bei jugendlichen öfter zu beobachten als bei den älteren Exemplaren dieser Kategorie.

4. Die Ninjas: Verteilen sich strategisch auf den unauffälligen Sitzplätzen, vorzugsweise an der Seite hinteres Drittel, aber nicht ganz hinten. Dort verwenden sie die größte Anstrengung darauf, möglichst unsichtbar zu bleiben. Bleibt nur zu hoffen, dass sie diese Technik nicht ebenso im Ernstfall anwenden würden. Man kann in den Kursen regelrecht beobachten, wie sie kleiner werden und die Umgebungsfarbe annehmen, wenn Beate etwas in die Runde fragt, oder gar freiwillige zum Demonstrieren der stabilen Seitenlage sucht. Nur macht das die Ninjas für Beate nicht unauffälliger. Vielmehr empfindet sie sie als Provokation und sie wecken in ihr tief liegende Mikroaggressionen, was sie sich selbst gar nicht so recht erklären konnte. Wenn es gerade keine Yolo-Homies gab, wählte sie sich ihre Opfer daher gerne aus dieser Kategorie. Denn sie war sicher, Introversion lässt sich durch einen Schubser ins kalte Wasser bestimmt heilen.

Yolo-Homies waren an jenem Tage nicht vertreten. Statt Führerschein-Fraktion gab es nur einen Raum voller freiwilliger betrieblicher Ersthelfer*innen, deren letzter Erste-Hilfe-Kurs noch keine 10 Jahre her war. Was so viel bedeutete, wie: besonders viele Experten. Na juhu.

Doch auch, wenn Beate sich gerne mal ihr Publikum lustig machte – sie liebte diesen Job. Eigentlich. An diesem Tag nicht. Sie hatte schlecht geschlafen, noch nichts gegessen, und war eben nach der Pause aus der 38 °C-Sonne direkt in den auf 19 °C klimatisierten Kursraum zurückgekehrt. Doch sie hielt sich tapfer. Sie war gerade dabei, ihre lange einstudierte Horror-Geschichte als echte Anekdote vorzutragen. Jede gute Erste-Hilfe-Kursleitung hat so eine. Bei Beate ging es um eine 18-jährige Sportlerin, die am Steuer ihres Autos einen Schlaganfall erlitt, was von den Mitfahrenden nicht richtig gedeutet wurde und die deswegen nicht eingriffen haben, weswegen es zu einem Massencrash auf der Autobahn kam. Keine Überlebenden. Auf der gesamten A1 nicht. Die Zuhörenden würden nach dieser Geschichte niemals mehr daran zweifeln, dass auch jüngere Menschen einen Schlaganfall bekommen können. Sicher hätte es nicht den selben Effekt, dem Kurs zu erklären: „Auch jüngere Menschen können einen Schlaganfall bekommen.“. Nein das würde nicht reichen. Leute sind dumm. Die Geschichte funktionierte, und bislang hatte noch niemand hinterfragt, warum man von solch einen Ereignis nichts in den Medien erfahren hatte. Doch an diesem Tag sollte Beate gar nicht zum blutrünstigen Höhepunkt ihrer pädagogisch wertvollen Geschichte gelangen, denn ohne Vorwarnung fing der Raum an, sich zu drehen, und wurde von einer dunklen Vignette eingefärbt. Ihr Kopf schmerzte und ihr wurde übel. Sehr übel. Mitten im Satz hob sie sich schnell die Hand vor dem Mund und unterdrückte ein Würgen. Der Kreislauf. Ein Familienleiden, das sie leider mit jedem Jahr stärker beschäftigte. Gerade im Sommer. Doch so übel hatte es sie bisher noch nie erwischt. Mit der Hand, mit der sie nicht gerade ihren Mund zuhielt, stützte sie sich auf ihrem Tisch ab.
Der Kurs blickte sie mit offenen Mündern an.
„SCHLAGANFALL!“, rief ein Experte,
„Ohgottogotto“, quiekte ein Meerschweinchen.
Die Ninjas wurden so blass wie die Raufasertapete hinter ihnen.
„Nun, also jetzt müssen wir die stabile Seitenlage machen“, meldete sich der vorderste Experte,
„aber“, ertönte ein Meerschwein, „nein, also wir haben doch am Anfang des Kurses gesagt, zuerst Notruf wählen, oder?“,
„Man ruft zuerst den Notruf!“, wiederholte ein weiterer Experte, ohne selbst zu begreifen, dass er es nur wiederholt hatte.

Beate hob beschwichtigend eine Hand und wollte ansetzen, zu erklären, dass es nicht so schlimm war, doch sobald sie den Mund öffnete, kündigte sich eine Magenentleerung an, weswegen sie doch schnell wieder den Mund mit der Hand verschloss.

„Eindeutig Schlaganfall. Sie hat Sprachstörungen und hebt die Arme nicht gleichhoch. Wir müssen sie hinlegen, oder?“
„Wir rufen jetzt erstmal den Notarzt!“
„Dann Herzdruckmassage?“
„Nein, nur wenn sie nicht atmet“
„Wer ruft denn jetzt den Notarzt?“, rief ein Meerschwein,
„Also am Anfang haben wir doch gelernt“ sagte Experte 1, „dass der erste am Unfallort die Verantwortung übernehmen, und delegieren sollte. Ich …“,
„Genau“, unterbrach Experte 2, „und deswegen rufen Sie jetzt den Notarzt!“,
„Ich wollte gerade, wie wir das gelernt haben, Atmung und Ansprechbarkeit überprüfen, rufen Sie doch den Notarzt!“
„Ich habe gerade schonmal den Notarzt angerufen“, murmelte eine Stimme, von einer blassen Person, von der niemand genau wusste, ob er sie den Tag über schonmal gesehen hatte. Anschließend verschmolz die Person wieder mit der Farbe der Tischplatte. Klassiker. Wenn zwei Experten sich streiten, freut sich ein Ninja.
Währenddessen war ein Meerschweinchen zu Beate getippelt, stellte sich hinter sie und fasste sie mit dem Rautek-Rettungsgriff wobei es laut murmelte: „also unter Achseln durchgreifen, Unterarm der Patientin fassen.“
Dabei robbte sie Beates Hand vom Mund weg, zog sie vom einigermaßen sicheren Halt des Tisches fort und lies sie unsanft zu Boden plumpsen. Beate presste Lippen und Augen zusammen, um sich erstens nicht zu übergeben, und zweitens nichts von dem was um sie geschah sehen zu müssen.
„Hallo sind sie ansprechbar.“, sprach das Meerschweinchen mechanisch. Beate grunzte.
„Also das gilt nicht als ansprechbar, oder?“, fragte das Meerschweinchen in Richtung der Experten.
„Nein“, sagte einer, und „doch“, ein Weiterer gleichzeitig.
„Legen wir ihre Beine hoch“, rief eine weitere Person, lief zu Beate und riss ihre Beine im rechten Winkel in die Höhe.
„NEIN AUF GAR KEINEN FALL“, rief jemand anderes, „da soll doch nicht noch mehr Blut ins Gehirn. Genau andersrum!“, die Person lief ebenfalls zu Beate, entriss der ersten Person die Beine, drückte sie auf den Boden, lief um Beate, griff ihr unter die Arme und stemmte sie schwungvoll in eine aufrechte Sitzposition. Schwindel und Übelkeit nahmen zu.
„Nein stabile Seitenlage jetzt!“, rief es aus einer anderen Ecke des Raums,
„OK“, rief eine weitere ersthelfende Person und drückte Beates Oberkörper erneut herunter, wobei ihr Kopf recht unsanft auf den Boden prallte.
„Ok, also wie war das“, sagte die Person, „Eine Hand ans Gesicht, der untere Arm im rechten Winkel, Knie anwinkeln, rüberziehen. So.“ Beate, die Augen immer noch zugekniffen, spürte, wie sie in eine angenehmere, sichere Position verlagert wurde. Zumindest etwas. Dachte sie, und hatte nun keine Sorge, an ihrem Erbrochenen zu ersticken, sollten die Menschen um sie herum sie weiter festhalten.
„Falsch! Sie trägt doch eine Brille, wir haben doch gelernt, die Brille vorher auszuziehen, bevor wir die Person in die stabile Seitenlage bringen“, kritisierte ein Experte,
„Oh ja Mist, richtig“, rief die Seitenlagen-Ersthelfende-Person, „nochmal.“ Beate spürte, wie sie wieder zurück auf den Rücken geschubst wurde und man ihr die Brille vom Gesicht zog.
„Darf ich diesmal?“, rief eine weitere Person. Sie lief zu Beate und brachte sie erneut in Seitenlage.
„Aber eben war sie auf der anderen Seite“, rief jemand,
„Das war doch egal, auf welche Seite, oder nicht?“,
„Neee, auf die Seite, wo das Herz ist!“,
„Das wurde aber so nicht gesagt eben“,
„Ich hab das aber irgendwo mal gelesen“,
„Aber ich habe mal gehört, genau auf die Seite soll man sie nicht legen!“
Zwei Personen robbten nun von beiden Seiten an Beate, die nun langsam spürte, wie sie ihr Bewusstsein verlor. Das Letzte, was sie hörte, war wie aus weiter Ferne: „Oh, also jetzt atmet sie, glaube ich nicht mehr richtig. Dann müssen wir jetzt die Herzdruckmassssss …“, dann glitt Beate in einen schummrigen Zustand, geplagt von Visionen, in denen sich Traum und Realität vermischten. Gigantisch große Meerschweinchen in Ninjakostümen flogen zu ihr und gaben ihr einen Kuss, während mega hippe Teens sich stritten, ob sie beim Karaoke „Staying Alive“ oder doch besser „Atemlos“ singen sollten. Dann spürte sie nur noch Schmerz und den Wunsch, ganz weit weg zu sein.

Als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich noch immer im Kursraum, aber blickte in die Augen eines Notarztes. Die Übelkeit war besser. Sie presste hervor: „Nur Kreislauf. Ein bisschen Wasser, und dann geht es wieder.“
„Das mag sein“, sagte der Notarzt, „wegen der vermutlich gebrochenen Rippen müssen wir sie trotzdem mitnehmen.“,
„Ja, nehmen sie mich bloß mit.“
Sie wurde auf eine Rettungsliege verfrachtet und unter den Blicken der Kursteilnehmenden hinausbefördert. Und in ihrem schmerzenden müden Kopf formte sich ein Gedanke, den sie niemals laut aussprechen würde: „Das Beste, was ihr in dieser Situation hättet machen können, wäre: 

Gar nichts!“

 

 

Entstanden für Folge 13 von Deis und Ella lesen Dinge vor.

Thema: Pech gehabt

 



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