Ebenina Screege
Marley war tot, damit wollen wir beginnen. Es ist wichtig, dies zu betonen, um die Tragweite der Begegnung hervorzuheben, von der ihr bald hören werdet. Marley war ohne Zweifel sehr sehr tot.
Äußert lebendig, auf der anderen Seite, war seine Geschäftspartnerin, sowie engste und einzige Vertraute im Leben, Ebenina Screege. Marley unter der Erde, und Screege am Leben zu wissen, erfüllte einige mit Menschen mit Freude. Denn Marley war kein beliebter Mann gewesen. Er galt als kaltherzig und ungerecht. Dabei war er durchaus großzügig gewesen. Er hatte viel seines hart ererbten Geldes an große Unternehmen und Politiker gespendet, auf das diese die gesamte Gesellschaft reicher machten. Zumindest im Durchschnitt. Und er hatte stets mit besten Absichten Motivationsansprachen auf den Lippen gehabt, um der arbeitenden, jedoch nicht wohlhabenden Bevölkerung, mehr Arbeit, und folglich mehr Wohlstand nahezulegen. Er hatte jedoch zeit seines Lebens zu einer gewissen Gleichgültigkeit und Häme gegenüber den Ärmeren, den Armen und den Ärmsten der Armen geneigt. Ein ausgezeichneter Geschäftsmann, der sich allerdings nie darin verstanden hatte, seine Abneigung gegen Mittelschicht und allem darunter, nur subtil durchscheinen zu lassen. Er hatte daher jemanden gebraucht, der seine zwischenmenschlichen Defizite ausglich und die Herzen des einfachen Fußvolkes einnehmen konnte. Hier kam Ebenina Screege ins Spiel. Eine durch und durch freundliche und herzliche Person, die ihrem gemeinsamen Geschäft Vertrauen und Gunst der Kundschaft sichern sollte. Mit Erfolg, denn Screeges Wärme lockte die Kundschaft mehr, als die Kälte in Marleys Wesen sie abschreckte. Nur Ebenina gegenüber hatte er so etwas wie Freundschaft entgegengebracht. Aus Berechnung, aber auch, weil es selbst einem harten Brocken wie Marley nur schwer möglich war, dem Screege-Lächeln zu widerstehen. Doch Screege war überzeugt, in seiner Freundschaft einen Hinweis darin zu erkennen, dass in Marley ein Mann steckte, der ihren eigenen Vorstellungen eines guten Menschen entsprechen könnte. Ein Hinweis, der sich zu Marleys Lebzeiten nicht bestätigte. Screege würde es niemals zugeben, aber auch ihr Leben war seit dem Tod ihres Kompagnons angenehmer geworden. Sie führte die Geschäfte alleine weiter, doch stand nun statt wirtschaftlichen Erfolg, die Kundenzufriedenheit im Vordergrund. Was das Unternehmen zwar weiterhin rentabel hielt, aber bei weitem nicht mehr so viel Geld einbrachte wie unter Marleys geschäftsmännischer Brillanz.
Screege war ohnehin für fehlenden Egoismus und Gebgier bekannt, doch zur Weihnachtszeit ließ sie erst recht alle Zurückhaltung in diesem Bereich fallen. Sie liebte Weihnachten.
Auch in diesem Jahr wurde zu Heiligabend jeder Kunde mit einem Präsent, einem ordentlichen Rabatt, besten Segenswünschen und einem Lächeln beschenkt. Nach getaner Arbeit verbrachte sie den Rest des Tages bei der Armenspeisung, die sie selbst organisierte und in die große Teile ihres Jahresgewinnes flossen. Und am bereits vorangeschrittenen Abend, als sie sicher war, all jene Bäuche gestopft zu haben, die sich solch ein üppiges Mal nicht aus Eigenleistung verdient hatten, gestattete Screege es sich, mit einer übrig gebliebenen Portion in ihrer festlich dekorierten Wohnung einzukehren, wo sie selbst zu Abend aß.
Ein für ihren Geschmack ganz wundervoller Heiligabend. Doch wurde die Besinnlichkeit unterbrochen, als sie aus dem Flur Rasseln und Scheppern hörte, das von einer vertraut klingende Stimme begleitet wurde, die ein hallendes „Huuuuuuuuh“ von sich gab. Screege sammelte all ihren Mut, trat zur Tür und öffnete diese einen kleinen Spalt, um in den Flur zu spähen. Sie erblickte zwar ihren Flur, jedoch nur schleierhaft durch eine bläulich durchsichtige Lufterscheinung in Menschengestalt direkt vor ihr. Ehe Screege überhaupt Gelegenheit hatte, sich über jene Erscheinung zu entsetzen, flog die Tür, wie von einer Sturmbö erfasst auf, und Ebenina erkannte ihren alten Kompagnon Marley schwebend, von schweren Eisenketten umschlungen, die über den Boden schliffen.
„Marley? Jacob Marley?“, rief Screege,
„Jawoohl“, rief der verstorbene Geschäftsmann in theatralischem Singsang,
„Ich bin es – Jacob Marleey. Ich bin gekommen um dich, Screege, zu waarnen“,
„Ach, also, wie ungewöhnlich. Aber schön, dich wiederzusehen, mein lieber Marley. Kann ich etwas für dich tun? Geht es dir gut? Du siehst recht blass aus. Möchtest du einen Tee?“,
„Es geht mir aaaaausgezeichnet, du brauchst rein gar nichts für mich zu tun, Screege. Ich komme aus dem Jenseits, um etwas für dich zu tun.“,
„Ach. Wie nett. Also bist du ein Geist“,
„Jawoooohl, ich bin ein Geist, ein Gespenst, ich bin das, was danach kommt. Ich habe mein Leben auf die bestmögliche Weise geführt und wurde dafür nach meinem Dahinscheiden reeich beloooohnt für alle Ewigkeit. Und ich …“
„Was haben denn diese Ketten zu bedeuten, Marley?“,
„Das, ach die, ach weißt du … Gar nichts. Die bedeuten Gar nichts. Trägt man so, dort wo ich jetzt lebe, also nicht lebe, sondern ... wo ich jetzt eben bin. Waber. Schwebe und solche Sachen. Beachte die Ketten einfach nicht. Die haben nichts zu sagen. Ehrlich.
So höre lieber zu, werte Screege, was ich dir zu verkünden habe. Gutmenschlichkeit, und der Umgang mit dem niederen Volke haben dich auf Abwege geführt. Deine Liebe zu Weihnachten, dem schlimmsten aller Feste, haben diese Unarten befeuert. Du missachtest die wahren Werte im Leben. Strebst nach den falschen Dingen. Doch noch ist es nicht zu spät. Noch kannst du auf den rechten Pfad zurückkehren.
Drei Geister werden dich in dieser Nacht besuchen, die dir die wahre Wertlosigkeit von Weihnachten aufzeigen werden. Die Geeeeister, sie kommen, wenn die Uhr Mitternacht schlääägt“, und mit jenen Worten durchfuhr erneut ein Wind die Räume und trug die Gestalt Marleys allmählich ab, bis Screege wieder allein in ihrer Wohnung stand und sich bereits einige Sekunden nach der Begegnung sicher war, dass sie diese geträumt haben musste. Sie schloss die Tür zum Flur und wollte sich gerade wieder ihrem Abendmahl widmen, als es an eben jene Tür klopfte. Screeges Blick fiel auf ihre Wanduhr. Es war bereits Mitternacht. Sie blickte auf die Tür und erschauderte. Ihre gerade erst erlangte Überzeugung, nur geträumt zu haben, welche die etwas ältere, aber ähnlich kürzliche Überzeugung, Marleys Gespenst begegnet zu sein überdeckt hatte, wurde nun wiederum von der ganz akuten Erkenntnis verdrängt, dass da etwas, was vor zwei Sekunden noch nicht hinter der Tür war, nun an diese klopfte. Ein Hinweis, dass auch die vorangegangene Unmöglichkeit nicht erträumt, sondern ganz und gar real gewesen sein könnten.
Es klopfte erneut. Lauter, schneller und öfter. Sodass, trotz des Schreckens in Ebeninas Gliedern, die Höflichkeit ihr untersagte, nicht auf das Klopfen zu reagieren, und so öffnete sie die Tür.
Ihr gegenüber im Flur schwebten drei Gestalten. Alle drei waren ein in Ketten liegendes Abbild von Jacob Marley, jedoch umfassten sie jeweils nur etwa ein Drittel seiner Körpergröße. Und alle unterschieden sie sich doch ein wenig von seiner Gestalt. Die erste Erscheinung trug einen Schnauzbart, die zweite Zylinderhut und Monokel, die dritte eine Augenklappe.
„Seid ihr die drei Geister, die mir angekündigt wurden?“
„Jawohl das sind wir“, sprachen die drei, wobei sie nach jedem Wort abwechselnd, und mit derselben Stimme sprachen.
„Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie habe ich mir vorgestellt, ihr würdet mich nacheinander besuchen.“
„Schweig, und sieh, Screege. Schweig und sieh!“
Die drei umkreisten Ebenina immer schneller, bis ihre bläulich schimmernden Leiber nicht mehr zu erkennen waren und Screege sich von einer undurchsichtigen Wand umzingelt sah. Bald verlangsamten die Geister ihr Umkreisen wieder und gaben Screege somit den Blick auf ihre Umgebung wieder frei. Nur war sie nun nicht länger in ihre Wohnung, sondern fand sich in einem kleinen weißen Raum, der gerade genug Platz für die vier Gestalten ließ. An einer Wand befand sich eine Tür, zu der sich Augenklappen-Marley zwängte. Er öffnete sie und offenbarte Screege die andere Seite. Sie sah ihre Familie. Ihre Geschwister, ihre Eltern, ihre Großeltern, Tanten, Onkel, Nichten, Neffen, Alle. Aufgereiht rechts und links an einem langen Flur, an dessen anderem Ende eine weitere Tür auf sie wartete. Eine seltene Zusammenkunft mit ihnen allen. Wie schön. So etwas gab es nur zu Weihnachten.
„Dies ist der Flur der harmonischen Weihnacht.“, sprach Augenklappenmarley, „Du kennst das Spiel, Ebenina Screege, nicht wahr? Du musst da jetzt durch.“
Kein Problem, so dachte Screege, die Weihnachten liebte und ihre Sippschaft sowieso. Besonders zu Weihnachten. Und so ging sie los und schritt sogleich in eine Kakophonie aus Stimmen, die so wild und laut durcheinanderriefen, dass sie ihre eigenen Gedanken nicht mehr zu hören vermochte. Nur wenig Konkretes schnappte Screege tatsächlich auf. Der zwinkernde Onkel, der ihr zuflüsterte, dass sie ja so erwachsen geworden sei, ein prächtiges Weibsbild und, also wenn sie nicht verwandt wären …, oder die Tanten, die ihr Fragen hinterherriefen, wann es denn bei ihr endlich mal so weit mit Heirat und Kindern wäre. Die Geschwister, die ihr vorhielten, was sie vor 10 Jahren Mal gemeines gesagt hatte und die Mutter die sie, als Ebenina gerade zum Verteidigen ausholen wollte, mahnend daran erinnerte, dass Weihnachten doch bitte das Fest des Friedens und der Harmonie sein solle. Screeges Lächeln, das zu Beginn ihres Ganges locker ihre Wangen umspielt hatte, war noch da, jedoch nun von angespannten Muskeln und zusammengebissenem Kiefer getragen. Augenklappenmarley schob sie sanft Schritt für Schritt weiter und flüsterte: „Wie schön wäre das, wenn es Weihnachten nicht gäbe, oder? Und ohne Weihnachten auch nicht die jährliche Verpflichtung, die Verwandtschaft wieder ertragen zu müssen, oder?“
„Ich liebe die Familie, und so schlimm war es früher nun auch wieder nicht“,
„sicher, natürlich, wir alle lieben unsere Familien. Müssen wir doch, oder? Gerade zu Weihnachten …“
Die Stimmen wurden lauter, Kinderblockflötenkonzerte, reaktionäre Politikreden, betrunkenes Gegröle, Screege erlaubte sich ihre Schritte zu beschleunigen, den Blick auf die Tür am Ende des Flurs gerichtet, auch wenn sie doch natürlich überglücklich sein musste, und ja, das war sie zweifelsohne auch. Denn es war schön, all die Verwandten vereint zu sehen, denn es waren Verwandte. Und es war Weihnachten. Selbstverständlich liebte und achtete sie alle Anwesenden und nichtsdestotrotz – riss sie nun endlich die Tür auf, sprang hindurch und schlug sie hinter sich wieder zu.
Erschöpft hielt sie ihre Augen geschlossen und atmete tief ein und aus.
„Willkommen im Raum der ungeschönten Weihnacht“ flüsterte ihr einer der Geister ins Ohr. Screege öffnete die Augen und sah erst Schnauzbartmarley, der sie direkt anstarrte und dann einen wundervoll weihnachtlich geschmückten Raum. Schnee, echter Schnee rieselte von der Decke auf die Kerzen, Tannenzweige, Weihnachtskugeln, Strohsternen … Screege fand all das wunderschön.
„All das ist wunderschön“, wiederholte sie ihren Gedanken laut,
„Der Schnee …“,
„sorgt für Verkehrsbehinderungen und Unfälle.“, ergänzte Schnauzbart-Marley.
„Die Christbaumkugeln …“,
„… sind überflüssige Müll, der lediglich dazu dient, das Elend dieser Welt etwas glitzern zu lassen, um es besser zu ertragen.“,
„Aber wenn man es dadurch doch eben besser erträgt …“,
„… ist man unterkomplex und ignorant.“
„Och …“
„Außerdem ist es kitschig.“
„aber …“
„schlecht für die Umwelt.“
„… ich habe verstanden. Gehen wir weiter?“
Und so ließen sie die Schönheit, durch die sich nicht länger erheitern lassen wollten, hinter sich und kamen zur letzten Tür. Monokelmarley schwebte voran und öffnete sie. Screege, die bereits einen gewissen Weihnachtsgroll im Magen verspürte, schritt missmutig durch die Pforte. Ein Chor aus Wehklagen begrüßte sie im dritten und letzten Raum. Ein weißer Raum, in dem zahllose Menschen in Anzügen saßen, und lagen, teilweise die Gesichter in den Händen vergraben, teilweise den gesamten Körper embryonal umschlungen, und allesamt weinten und schluchzten sie bitterlich.
„Dies, werte Screege, ist der Raum der antikapitalistischen Weihnacht. Dies sind die armen Seelen, die bei all der Güte und angeblichen Selbstlosigkeit auf der Strecke bleiben. Die Opfer des angeblichen Sinns von Weihnachten. Jene armen Menschen, sind es, die doch eigentlich der Gesellschaft erst zu Wohlstand und Reichtum verholfen haben.“,
„zumindest im Durchschnitt“ murmelten die anderen beiden Marleys.
Monokel führte Screege zu einem Mann, der sich versuchte seine Tränen mit Papieren voller Infografiken zu trocknen, dabei verwischte er jene Umsatzkurven bereits, die gefährlich leicht abwärts verliefen.
„Dieser gute Mann“, sprach der Geist sanft, während er den Kopf des Leidgeplagten streichelte, „hat dieses Jahr große Gewinnverluste zu verzeichnen. Gut möglich, dass sein Jahresbonus in diesem und in kommenden Jahren geringer ausfällt, als er dies gewohnt ist. In einer Welt voller Ebeninas, in der sich zu Weihnachten nicht mehr versucht wird zu übertrumpfen, sondern sich mit persönlichen kleinen Präsenten zu begnügen, und in einer Welt, in der die Menschen ihr Geld lieber Arbeitsfaulen geben, statt es dem eigenen Luxusbedürfnis zu spenden, ja, jenes wird schändlichst ignoriert, und eine Welt, in der, oh Screege, alle Menschen aufhören, so wie du, nach noch mehr Reichtum zu streben, ist es doch die gesamte Wirtschaft, die darunter leidet. Und mit ihr, letztlich wir alle.“
Eine andere, der weinende Personen konnte sich nicht beherrschen und schrie ihr Elend bitterlich hinaus. Monokelmarley eilte zu der Person, Ebenina mit sich ziehend, die das verzweifelte Wesen voller Mitgefühl in den Arm nahm. Die Person murmelte gebrochen und unsicher Sätze in einer anderen Sprache, die zweifellos nicht ihre Muttersprache war.
„Jaja, so ist das, Screege. In einer Welt, in der alle Menschen, auch in der Politik, anfangen die Menschen, die das meiste besitzen, ich will meinen verdient, ungleich höher zu besteuern, damit sich der Reichtum gleichmäßiger verteile (alle Marleyabbilder bekreuzigten sich), da sind unsere tapferen Unternehmer doch gezwungen, die Heimat zu verlassen und in vernünftigere Länder abzuwandern, wo Geschäftssinn noch belohnt wird. Wo dieser arme Mensch hier nun aber nicht nur mit Sprachbarrieren zu kämpfen hat, sondern gelegentlich auch an seine ehemalige Belegschaft denkt, die nun, weil man ihn zwingen wollte, sie großzügiger zu entlohnen (alle Marley-Abbilder bekreuzigten sich), nun arbeitslos sind. Arbeitslos. Verstehst du, was das bedeutet? Noch mehr Menschen, die weniger konsumieren, also noch weniger Umsatzsteuereinnahmen, Screege.“
Ebenina schluchzte ihrerseits auf und bekreuzigte sich.
„Oder diese arme Seele hier“, rief Monokel und führte Screege zu einer weiteren Person, die auf dem Boden lag und ihrer Agonie neben den zahlreichen Tränen noch mit wildem Strampeln Ausdruck verlieh.
„In einer Welt, Ebenina, in der, wie du dies wünschst, die Arm-Reich-Schere geschlossen ist, geht Reichtum letztlich verloren. Denn alle nähern sich an und bedauernswerte Wesen, wie dieses hier“, er klopfte der vor Elend tobenden Person sachte auf den Rücken, „verlieren ihren Selbstwert. Menschen, die sich dadurch definieren, sich Luxus und gesellschaftlich hohes Ansehen verdient zu haben und sich damit von der Mehrheit abheben, denen möchtest du, grausame Screege, die Grundlage ihres Glückes verwehren. Verstehst du, Screege? Verstehst, du? Screeeeeege?“,
Monokelmarley fasste Ebenina an den Schultern und schüttelte sie. Die anderen beiden Geister vereinten sich mit seinem Leib, der daraufhin zu menschlicher Größe heranwuchs. Währenddessen schwoll das Stimmenmeer aus Weinen, Wimmern und Wehklagen zu einem ohrenbetäubenden Chor des Elends an. Screege verschloss die Augen und presste sich die Hände auf die Ohren.
„Aufhören, Aufhören, bitte. Aufhören“, rief sie, doch konnte sie die eigene Stimme erst beim dritten Flehen überhaupt selbst hören. Denn beim dritten Flehen war alles um sie herum wieder still.
Sie öffnete die Augen und fand sich in ihrer Wohnung wieder. Die aufgehende Sonne erhellte bereits langsam den Raum. Sie sah sich um. Keine Geister. Kein Marley. Keine traurigen Hochperformer. Nur sie und ihre Wohnung, die ihr plötzlich viel zu klein und schlicht erschien. Sie blickte auf ihr inzwischen erkaltetes Abendmahl. Es war köstlich. So köstlich, dass es sie wütend machte, dies mit Menschen geteilt zu haben, die dies doch gar nicht zu schätzen und sich selbst zu erarbeiten wussten. Skandal. Sie riss die Weihnachtsdekoration von Wänden, Decke und Tisch. Das alles, das hatte sie nun endlich erkannt, war Humbug. Wieso sollte man sich selbst mit etwas Schönem erheitern, wenn dies doch am Elend der Welt nichts änderte und – noch schlimmer – keinen Gewinn einbrachte?
Screege verließ das Haus. Draußen war die Welt von Schnee bedeckt und Familien und Freundesgruppen leisteten sich ganz widerliche Gesellschaft. Sie hielt einen blassen, in Lumpen gekleideten Jungen an, der gerade des Weges kam, und fragte: „Du da, welcher Tag ist heute?“,
„Heute? Heute ist Weihnachten, Mam.“
„Igitt, das habe ich befürchtet. Hatte gehofft, das verschlafen zu haben. Na denn, verzieh dich und such dir Arbeit!“
Sie stieß den Knaben von sich und machte sich auf den Weg in ihr Büro, wo sie den Tag damit verbrachte, Kündigungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schreiben, deren Arbeitskraft sich ihrer Meinung nach auf die übrigen Schultern verteilen ließ. Des Weiteren sinnierte sie über gewinnsteigernde Investitionsmöglichkeiten, die sie angehen könnte, sobald sie ihre Stiftung für die Armenspeisung losgeworden war. Zum Wohle der Gesellschaft letztlich. Sie hatte die tiefe Gewissheit, sich nun endlich auf dem rechten Weg zu befinden. Auf dem sie fortan danach strebte, vielleicht nicht so sehr in Würde, dafür aber in Habe zu altern. Zwar verspürte sie bei diesen Gedanken keine Freude, doch das Vertrauen darin, dass die bald steigenden Gewinne die innere Leere schon füllen würden. Bestimmt. Und alles war so, wie es sein sollte. Friedlich und voller Überfluss. Zumindest im Durchschnitt.
Frohe Weihnachten.
Entstanden für Folge 16 von Deis und Ella lesen Dinge vor. #LesiDinge
Thema: Weihnachten
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