Fünf kurze Geschichten über Kürze
1. Geschichte
Schöner Anblick – Schöner Tag.
Mein Kopf hat sich heute noch nicht entschieden, wie es mir geht. Das Leben ist von immergleichen, weder guten noch schlechten Abläufen geprägt und die guten wie schlechten Nachrichten, seien es globale oder persönliche, scheinen mir recht ausgeglichen vertreten. Das Leben ist, ich bin, der Tag ist neutral. Ich schätze, das ist nicht die übelste Ausgangssituation. Dieser Tag ist ein weißes Papier, soll doch die Welt schauen, was sie darauf malt. Ich gehe durch die Straßen und lasse die Dinge, die ich sehe entscheiden, wie es mir geht. Schön, diese Verantwortung abzugeben.
Und das erste, worauf mein Blick fällt, ist ein Liebespaar. Um genauer zu sein: ein altes Liebespaar. Nach meiner Schätzung, auch wenn ich wenn ich in solchen Fragen gerne mal weit danebenliege: sehr alt.
Sie stützen einander. Er flüstert ihr etwas ins Ohr, sie kichert, er greift nach ihrer Hand und gemeinsam spazieren sie die Promenade entlang.
Ein kurzer Anblick, der aber eine lange Geschichte erzählt. Eine schöne Geschichte. Von Liebe, die die Zeit überdauert. Von zwei Menschen, die gemeinsam durch Höhen und Tiefen schreiten, ohne einander nach all den Jahren müde zu werden. Zwei Menschen, die seit vielen Jahren einander schätzen, respektieren, lieben. Wie damals, als sie sich kennenlernten.
Somit ist es entschieden. Welch ein schöner Anblick. Welch ein schöner Tag.
2. Geschichte
Ein fairer Deal
Damals, nachdem ihr Herbert im Alter von 87 Jahren gestorben war, hatte es eine ganze Weile gedauert, bis Irmgard sich eingestehen konnte, darüber nicht traurig zu sein. Man hatte ihr früher so oft gesagt, dass sie ein Leben führte, wie viele es sich wünschten, dass sie sich nie getraut hatte, unglücklich zu sein. Allerdings – „glücklich“ hatte sie sich immer anders vorgestellt.
Eher so wie jetzt. Da sie alleine ihren Alltag bestimmte. Ohne Verantwortung für einen Menschen mitübernehmen zu müssen, der überzeugt war, dass die Arbeiten im Haushalt unter den beiden gerecht und gleich verteilt waren. Denn Herbert hatte seine Aufgaben stets ohne Murren erledigt. Nachdem Irmgard ihm dazu aufgefordert hatte. Klar. Er hätte doch sonst nicht ahnen können, dass er ihr helfen sollte.
Aber nun war er tot. Und sie lernte sich endlich selbst kennen. All die Jahre zuvor hätte sie nie vermutet, einmal als alte Witwe so viel Leidenschaft in einem neuen Hobby zu finden. Ein ungewöhnliches Hobby, das sicher die wenigsten gutheißen würden, oder bei einer Frau ihres Alters vermuten würden. Aber es hielt sie fit, es hielt sie jung, es brachte sie dazu, das Haus zu verlassen, und es bescherte ihr regelmäßig etwas, wovon sie auch nicht gedacht hatte, es überhaupt noch einmal zu erleben, nachdem sie verheiratet war: Erste Dates.
So wie heute. Mit Wilhelm. 78 Jahre alt. Zwei Jahre jünger als Irmgard. Wie aufregend. Sie trafen sich schon morgens in einem kleinen Café. Kuchen zum Frühstück. Wundervoll. Sie schwärmten über die gemeinsame Liebe für Bienenstichkuchen und lachten über ihre gemeinsame Abneigung gegen Buttercreme. Sie beide mochten Operetten, aber mieden die Oper. Und sie beide tanzten sie für ihr Leben gern.
Ob das alles echte Gemeinsamkeiten waren, oder Wilhelm sich nur einschmeichelte, vermochte Irmgard einzuschätzen. Sie hatte ihre Zweifel. Schließlich wusste sie bereits, dass er log, als er versicherte, alleinstehend zu sein. Sie hatte recherchiert. Er war verheiratet. Seine Gattin lebte. Irmgard hatte die Woche zuvor, nach ihren Recherchen, sogar vor ihrem Haus gestanden die beiden beim Abendessen beobachtet. Irmgard traf sich immer nur mit den verheirateten Lügnern. Manchmal auch mit Eheschwindlern. Das passt am besten für ihr Hobby. Sie wollte nicht die netten Männer, sie wollte die belanglosen kurzen Begegnungen mit den kokettierenden Lügnern. Sie wollte die Pfauentänze.
Nach dem Café spazierten sie die Promenade entlang. Er nahm sie bei der Hand. Und erzählte von seinem liebsten Hobby. Dem Angeln. Er erklärte ihr in aller Ausführlichkeit, worauf es ankam, was am besten funktionierte und wie. Gewisse Analogien, die mit Fischen zu tun hatten, die an Haken hingen, flüsterte er Irmgard ins Ohr. Sie kicherte. Und lauschte seinen Erläuterungen weiter. Er war dabei vielleicht ein wenig oberlehrerhaft. Aber charmant. Und nicht uninteressant. Sie hörte gerne zu. Wusste ja, dass sie ihm nicht mehr lange zuhören musste. Eine Stunde höchstens noch. Dann würde sie ihn mit zu sich nehmen und für ihre Geduld belohnt werden. Sie liebte ihr Hobby mit dem langen Vorspiel. Ihm zuzuhören, wie er von seinem Hobby, seiner Leidenschaft sprach, gehörte dazu, bevor sie ihm ihre zeigte. So wie es war, war es gut. Er brachte ihr was bei, und sie ihn später um. Fairer Deal.
3. Geschichte
Sesquipedalophobie wird oft synonym als Hippopotomonstrosesquipedalophobie bezeichnet
Um sein Wissen zu erweitern und mehr über sich selbst zu erfahren, googelte Herbert, den eine tiefe Angst vor langen Wörtern quälte, den Fachbegriff seiner Störung. Leider starb er am selben Tag durch einen Herzschlag.
4. Geschichte
klein
So klein zu sein war nicht leicht für Mareike. Aber sie war es gewohnt. Sie kannte es nicht anders. Wurde schon früher immer nur „die Kurze“ genannt. Sie hatte sich damit abgefunden, ein nahezu nanoskopischer Winzling zu sein.
Es war ein gewöhnlicher Dienstagabend. Sie befand sich auf dem Heimweg. Wie jeden Tag, wich sie in gekonnter Zickzackformation den riesigen Schuhsohlen aus, die sie unter sich zu zerquetschen drohten, umging lebensbedrohliche Abgründe in Gullideckeln. Sie schaffte sämtliche Auf- und Abstiege von Bordsteinkanten und Treppenstufen ohne Sicherung und ohne Knochenbrüche. Zur Krönung des Tages machte sie an einer Eisdiele halt, um sich eine Kugel Zitronensorbet in der Waffel zu kaufen. Nichts Besonderes. Diese eine Kugel Eis gönnte sie sich des Öfteren. Etwa einmal die Woche. Jedoch nie ohne Scham, denn immer, wenn sie das Waffelhörnchen in enger Umarmung durch die Straßen wuchtete und ihr Gesicht in der kopfgroßen Eiskugel vergrub, spürte sie die Blicke der Giganten um sie herum auf sich. Die sich wohl alle fragten, wie so ein kurzes Geschöpf denn nur auf die Idee komme, ungeniert ihr eigenes Körpervolumen in sündhafter Zuckermasse zu vertilgen. Einfach so. In aller Öffentlichkeit. Wenngleich man Mareike leicht übersah. Trotzdem. Sie war sicher, dass all diese Menschen, die sie aus schwindelerregender Höhe erblickten, sie verurteilten. Womöglich zu Recht. Eben … ein normaler Dienstagabend. Der einzige Unterschied zu anderen Tagen war, dass ihr heute eine kleine Wortkombination im Kopf herumschwirrte, die sie im Laufe des Tages aufgeschnappt hatte. Verfälschte Selbstwahrnehmung. Hatte sie im Bezug auf Anorexie gelesen. Dass sich Betroffene oft nicht nur zu dick empfinden, sondern sich tatsächlich auch so sehen. Ihr Gehirn gaukelt ihnen etwas vor, das nicht der Realität entspricht. Faszinierend, fand Mareike. Ob es nun daran lag, dass sie über diesen Fakt nachgrübelte, oder dass die gigantische Eismasse ihren Blick verdeckt hatte, jedenfalls rempelte sie versehentlich eine alte Frau an. Mareike entschuldigte sich sogleich, doch die Frau lachte ihr nur ins Gesicht und rief mit freudig überschlagener Stimme: „Ich habe heute Morgen wieder einen abgemurkst!“, und verschwand um die nächste Ecke.
Das war eigentlich noch immer nichts, was den Tag ungewöhnlich machte. Menschen in der Großstadt, die seltsame Dinge riefen. Das Ungewöhnliche war, dass Mareike, als sie der Frau hinterherschaute, mehr als üblich auf sich selbst achtete. Dabei stellte sie fest, dass sie der alten Frau in die Augen gesehen hatte, ohne, ihren Kopf dafür weit in den Nacken zu legen. Die Augen dieser durchschnittlich großen Seniorin hatten sich auf Höhe ihrer eigenen Augen befunden. Folglich war Mareike wohl auch wenigstens annähernd ebenfalls durchschnittlich groß. So wie es ihr gewisse Menschen, Statistiken und ihr Maßband auch schon öfter versichern wollten, doch hatte sie bisher allen dreien nicht geglaubt. Aber langsam kam der Gedanke bei ihr an. Und so bemerkte sie nun auch, dass das Eis in ihrer Hand überhaupt nicht riesig war. Dieses Waffelhörnchen mit der einen Kugel, an der sie nur kurz geleckt hatte, und die nach Reue geschmeckt hatte. Nein, es schien ihr sogar lächerlich klein. Sie ließ es fallen, kehrte um, um sich den großen Amarena-Kirsch-Eisbecher mit Extrasahne zu bestellen, auf den sie eigentlich Lust hatte. Es war der beste Tag ihres Lebens.
5. Geschichte
Trauriger Anblick – trauriger Tag.
Mein Kopf kann sich wieder nicht entscheiden, wie es mir geht. Eigentlich hatte ich das frohe Gemüt gewählt. Heute morgen, als ich dachte, nichts könne diesen Tag ruinieren, nachdem ich einen Beweis für die Existenz wahrer Liebe beobachtet hatte. Aber über den Tag hat sich mein Gehirn wieder endentschieden. Das Stimmungshoch sackte ab. Das Büro – der Alltag – das Hamsterrad hat meine Laune wieder auf dieses trist neutrale Grau heruntergedreht. Unpassendes Bild. Grau ist doch keine Etage. Und ein Hamsterrad dreht sich im Kreis und nicht irgendwas herunter. Aber ein besseres Bild mag ich mir nicht ausdenken. Denken. Heute nicht mehr. Ich möchte diese Verantwortung erneut abgeben. An die Welt. Das hat heute Morgen doch so wunderbar funktioniert. Also. Universum, bitte sag du, wie es mir geht.
Und wie ich um die nächste Ecke gehe, antwortet mir das Universum mit einem „krrrk“ und wie ich meinen Blick dem Geräusch folgen lasse, sehe ich, dass ich auf ein Waffelhörnchen getreten bin. Zum Glück nur auf das Hörnchen, denn die Kugel Eis hätte ich ebenso erwischen können. Also … nichts passiert. Außer, dass ich nun auf ein heruntergefallenes Eis blicke, das langsam zerfließt.
Ein kurzer Anblick, der eine traurige Geschichte erzählt. Von einem Eis, das niemals genossen wurde. Von vergebener Vorfreude, unerfüllter Erwartung und verwehrt gebliebenem Genuss. Von einer Person, die sich doch nur diese kleine Freude, den kleinen Seelentrost gönnen wollte, doch Universum und Tollpatschigkeit taten sich zusammen, um diese Person zu verraten.
Und somit ist es entschieden. Welch ein trauriger Anblick. Der Tag ist gelaufen.
Ende
Entstanden für die 17. Ausgabe von „Deis und Ella lesen Dinge vor“ #LesiDinge
Thema: Kürze
auf twitch.tv/hirnbraten könnt ihr euch noch ein Weilchen das VOD anschauen
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