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Kaulquappe

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   Er schwamm. Immer schon. Kannte nichts anderes. Bewegte sich sachte in der ihn umgebenden Flüssigkeit hin und her, soweit der begrenzte Raum es zuließ. So war es immer schon gewesen. Aber was war dieses „immer schon“, bzw. wie lange? Hatte es schonmal ein „immer schon“ gegeben? Zum Beispiel gerade eben noch? Vor Kurzem? Da war doch noch alles anders gewesen, oder? War da nicht irgendwas, das er vergessen, oder falsch in Erinnerung hatte? Es war ihm, als sei er eben noch nicht diese Kaulquappe gewesen, die im engen Raum umher schwamm und sonst nichts tat. Er erinnerte sich dunkel an ausufernde Extremitäten an seinem ohnehin viel stabileren Körper. Er hatte das Gefühl, sonst war da mehr „Außen“ gewesen. Ein Boden. Und etwas anderes, als diese Flüssigkeit, die ihn umgab. Schwer zu beschreiben, was es war – eben einfach das Fehlen der Flüssigkeit. Und was hörte er? Er glaubte, auch vorher Dinge gehört zu haben, aber anders. Unterscheidbarer. Lauter. Konkreter. Nicht dieses endl...

Des Kaisers alte Scheiße

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  Es lebte einst ein Kaiser, der liebte sein Volk über alle Maßen. Pardon, sagte ich „sein Volk“? Verzeiht mir diesen Irrtum, ich meinte „sich“. Er liebte sich. Über alle Maßen. Er konnte vom Anblick seines eigenen Spiegelbildes nicht genug bekommen. Auch der Klang der eigenen Stimme verzückte ihn und nichts fühlte sich besser an, als die eigene Hand am eigenen Körper. Er ließ keine Gelegenheit verstreichen, sein Volk daran zu erinnern, was für ein Glück es doch hatte, ihn ihr Oberhaupt nennen zu können. Dass sie sich auf seine Unfehlbarkeit stets verlassen könnten. Und viele seines Volkes glaubten ihm und waren ehrlich erleichtert, sämtliche Zweifel und eigenes Denken abgeben zu können. Und jene im Volk, die an der Unfehlbarkeit zweifelten, schalt man Lügner, Schwarzmaler und Schlimmeres. Und so lebte es sich, vielleicht nicht gut, aber es lebte sich im Land. Der Kaiser war glücklich. Fast. Je länger er seine Überlegenheit betrachtete, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, da...

Was auch immer uns antreibt

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Das Leben neigt dazu, gnadenlos repetitiv zu sein. So geschah es zum Beispiel auch an diesem Tag, dass sie aufwachte. Sie öffnete die Augen und starrte zu den Deckenpaneelen. Eine ganze Weile. Da war dieser Fleck. Dieser einstige, nie überstrichene Wasserschaden. Immerhin kein Schimmel. Glaubte sie. Würde sie den Fleck nur lange genug betrachten, offenbarte seine Form ihr vielleicht Hinweise auf die großen Fragen des Lebens. Wobei es ihr für den Moment schon ausreichen würde, wenn er ihr verriet, wie sie die Energie aufbringen könnte, das Bett zu verlassen. Denn die Zeit war so ungnädig, unbeachtet ihres Unvermögens irgendetwas zu tun, einfach weiterzulaufen. Was könnte es sein, was würde ihr Antrieb verleihen? Was wäre ein Grund, eine Motivation? Oder – besser – was würde sie konstant so reich versorgen, dass Aufstehen, und alles, was anschließend noch so folgen würde, sich gar nicht wie unsichtbare Hürden anfühlte, die es erst einmal zu überwinden galt. Wenn sie dieses ...

Fünf kurze Geschichten über Kürze

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  1. Geschichte Schöner Anblick – Schöner Tag. Mein Kopf hat sich heute noch nicht entschieden, wie es mir geht. Das Leben ist von immergleichen, weder guten noch schlechten Abläufen geprägt und die guten wie schlechten Nachrichten, seien es globale oder persönliche, scheinen mir recht ausgeglichen vertreten. Das Leben ist, ich bin, der Tag ist neutral. Ich schätze, das ist nicht die übelste Ausgangssituation. Dieser Tag ist ein weißes Papier, soll doch die Welt schauen, was sie darauf malt. Ich gehe durch die Straßen und lasse die Dinge, die ich sehe entscheiden, wie es mir geht. Schön, diese Verantwortung abzugeben. Und das erste, worauf mein Blick fällt, ist ein Liebespaar. Um genauer zu sein: ein altes Liebespaar. Nach meiner Schätzung, auch wenn ich wenn ich in solchen Fragen gerne mal weit danebenliege: sehr alt. Sie stützen einander. Er flüstert ihr etwas ins Ohr, sie kichert, er greift nach ihrer Hand und gemeinsam spazieren sie die Promenade entlang. Ein kurzer Anblick, de...

Ebenina Screege

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  Marley war tot, damit wollen wir beginnen. Es ist wichtig, dies zu betonen, um die Tragweite der Begegnung hervorzuheben, von der ihr bald hören werdet. Marley war ohne Zweifel sehr sehr tot. Äußert lebendig, auf der anderen Seite, war seine Geschäftspartnerin, sowie engste und einzige Vertraute im Leben, Ebenina Screege. Marley unter der Erde, und Screege am Leben zu wissen, erfüllte einige mit Menschen mit Freude. Denn Marley war kein beliebter Mann gewesen. Er galt als kaltherzig und ungerecht. Dabei war er durchaus großzügig gewesen. Er hatte viel seines hart ererbten Geldes an große Unternehmen und Politiker gespendet, auf das diese die gesamte Gesellschaft reicher machten. Zumindest im Durchschnitt. Und er hatte stets mit besten Absichten Motivationsansprachen auf den Lippen gehabt, um der arbeitenden, jedoch nicht wohlhabenden Bevölkerung, mehr Arbeit, und folglich mehr Wohlstand nahezulegen. Er hatte jedoch zeit seines Lebens zu einer gewissen Gleichgültigkeit und Häme ge...

Der Beobachter

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 Es hatte sich etwas verändert. Die Welt. Vor einigen Stunden hat sie noch Sinn ergeben. Aber jetzt? Marlas Tag hatte ganz normal begonnen. Beinahe. Da war nur dieses … Gefühl. Aber nein, das war nichts. Wohl nur ein Unbehagen, das sie aus einem Traum mitgebracht hatte, an den sie sich bereits nicht mehr erinnern konnte. Nein. Es war ein normaler Morgen. Aufgestanden. Geduscht. Angezogen. Make up aufgelegt. Beim Frühstück haben Theo und sie sich darauf geeinigt, dass sie Lachsgratin zu Abend essen würden. Sie würde nach der Arbeit den Guten in der Markthalle besorgen. Nach der Arbeit. Ein Abschiedskuss. Der kurzfristige Entschluss, das Fahrrad stehen zu lassen und zu Fuß ins Büro zu gehen. Denn sie war früh dran, hatte Zeit und wollte das Wetter genießen. Das Wetter. Es war doch sonnig. Warm. Angenehm. Normal. Alles normal. Beinahe. Nur dieses Kribbeln im Nacken. Der Arbeitstag. Nicht stressig, nicht langweilig. Angenehmes Arbeitspensum. Keine Dramen, harmlose Lästereien in der Kaf...

Ein Kuss für Tante Monsternase

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Verwandschaftsbesuch bei Bente. Die ganze Woche schon und noch bis morgen. Die Oma ist da. Und Onkel Kalli ist auch da. Mit Thea. Die wohnt schon seit letztem Jahr bei Onkel Kalli und nächstes Jahr werden die beiden heiraten. Bente mag es, wenn Trubel im Haus ist. Oma hat Bente die letzten Tage ganz viel vorgelesen und sie haben gemeinsam Puzzles gelöst. Onkel Kalli hat Bente ganz viele Witze beigebracht und Thea hat mit Bente ganz viel fangen und verstecken gespielt. Schade, dass morgen alle schon wieder nach Hause fahren. Aber Bentes Papa hat versprochen, dass sie ganz bald auch mal mit Oma zusammen Kalli und Thea besuchen fahren. Das freut Bente. Am Nachmittag stehen Mama und Papa und Kalli und Thea zusammen und reden komisches langweiliges Zeug und sehen aber dabei, das wundert Bente immer, gar nicht so aus, als würden sie sich langweilen. Sie gucken sogar so, als würde es ihnen Spaß machen. „Blablabla Wertanlage“, sagen die, und „Blablabla Vorsorgeuntersuchung“. Bente versteht nic...

Ersthelfen Extreme

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„… und was wäre in dieser Situation das Schlechteste, was man machen kann?“ „Gar nichts!“ „Soooo!“ Beate nickte und klatschte zweimal in die Hände, um die Teilnehmenden ihres Erste-Hilfe-Kurses für diese korrekte Chor-Antwort, zu belohnen. Wie jedes Mal hatte sie das auch diesem Kurs in den letzten drei Stunden mantrahaft eingetrichtert. Die Teilnehmenden belohnten sich ebenfalls. Mit Fiepsen, Nicken und teilweise überdeutlichem Augenrollen, das bei Sitznachbar*innen keinen Zweifel übrig lassen sollte, dass einem das sowieso schon von Anfang an und überhaupt schon seit immer klar gewesen ist. Letztere waren für Beate immer die anstrengendsten Leute. Diese „Ich habe schon einmal 110 gewählt, ich kenn mich bestens aus und könnte diesen Kurs theoretisch selbst leiten!“-Fraktion. Da waren ihr sogar die „Ich will meinen Führerschein und brauch den Wisch dafür und sitze deswegen meine Zeit hier ab“-Leute tausendmal lieber. Also, vermutlich würden die das nicht so formulieren. Beate wusste ni...