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Gesegneten Wein verschwendet man nicht

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Ein Mann stand in der Nacht vor einer Tür, deren Anblick etwas in ihm weckte. Ohne ein Ziel, ohne einen Plan griff er nach der Klinke, drückte sie herunter und zog. Die Tür zur Sakristei war unverschlossen. Was für ein Zufall. Oder auch nicht. Nein, eigentlich kam es immer schon sehr oft vor, dass sie nicht verriegelt war. Nicht, weil man sich hier im Ort so sehr vertraute, sondern weil die Küsterin einfach nur oft vergaß abzuschließen. Überall sonst in ihrem Leben hatte sie es immer nur mit Haustüren zu tun gehabt, die von Außen einen Knauf besaßen, mit dem man sich, wenn zugezogen, nicht so einfach Zutritt verschaffen konnte, und wenn sie auch insgesamt sehr gewissenhaft war, so hatte sie doch erhebliche Schwierigkeiten damit, sich an Dinge zu gewöhnen, die nicht ihrer gelernten Norm entsprachen.  Früher, als Kind hatte er oft extra einen Umweg gemacht, um zu prüfen, ob die Tür abgeschlossen war. War sie es nicht, ist er mit stolzgehorsamen Eifer die zwei Straßen zum Haus der Küs...

Kaulquappe

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   Er schwamm. Immer schon. Kannte nichts anderes. Bewegte sich sachte in der ihn umgebenden Flüssigkeit hin und her, soweit der begrenzte Raum es zuließ. So war es immer schon gewesen. Aber was war dieses „immer schon“, bzw. wie lange? Hatte es schonmal ein „immer schon“ gegeben? Zum Beispiel gerade eben noch? Vor Kurzem? Da war doch noch alles anders gewesen, oder? War da nicht irgendwas, das er vergessen, oder falsch in Erinnerung hatte? Es war ihm, als sei er eben noch nicht diese Kaulquappe gewesen, die im engen Raum umher schwamm und sonst nichts tat. Er erinnerte sich dunkel an ausufernde Extremitäten an seinem ohnehin viel stabileren Körper. Er hatte das Gefühl, sonst war da mehr „Außen“ gewesen. Ein Boden. Und etwas anderes, als diese Flüssigkeit, die ihn umgab. Schwer zu beschreiben, was es war – eben einfach das Fehlen der Flüssigkeit. Und was hörte er? Er glaubte, auch vorher Dinge gehört zu haben, aber anders. Unterscheidbarer. Lauter. Konkreter. Nicht dieses endl...

Des Kaisers alte Scheiße

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  Es lebte einst ein Kaiser, der liebte sein Volk über alle Maßen. Pardon, sagte ich „sein Volk“? Verzeiht mir diesen Irrtum, ich meinte „sich“. Er liebte sich. Über alle Maßen. Er konnte vom Anblick seines eigenen Spiegelbildes nicht genug bekommen. Auch der Klang der eigenen Stimme verzückte ihn und nichts fühlte sich besser an, als die eigene Hand am eigenen Körper. Er ließ keine Gelegenheit verstreichen, sein Volk daran zu erinnern, was für ein Glück es doch hatte, ihn ihr Oberhaupt nennen zu können. Dass sie sich auf seine Unfehlbarkeit stets verlassen könnten. Und viele seines Volkes glaubten ihm und waren ehrlich erleichtert, sämtliche Zweifel und eigenes Denken abgeben zu können. Und jene im Volk, die an der Unfehlbarkeit zweifelten, schalt man Lügner, Schwarzmaler und Schlimmeres. Und so lebte es sich, vielleicht nicht gut, aber es lebte sich im Land. Der Kaiser war glücklich. Fast. Je länger er seine Überlegenheit betrachtete, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, da...

Was auch immer uns antreibt

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Das Leben neigt dazu, gnadenlos repetitiv zu sein. So geschah es zum Beispiel auch an diesem Tag, dass sie aufwachte. Sie öffnete die Augen und starrte zu den Deckenpaneelen. Eine ganze Weile. Da war dieser Fleck. Dieser einstige, nie überstrichene Wasserschaden. Immerhin kein Schimmel. Glaubte sie. Würde sie den Fleck nur lange genug betrachten, offenbarte seine Form ihr vielleicht Hinweise auf die großen Fragen des Lebens. Wobei es ihr für den Moment schon ausreichen würde, wenn er ihr verriet, wie sie die Energie aufbringen könnte, das Bett zu verlassen. Denn die Zeit war so ungnädig, unbeachtet ihres Unvermögens irgendetwas zu tun, einfach weiterzulaufen. Was könnte es sein, was würde ihr Antrieb verleihen? Was wäre ein Grund, eine Motivation? Oder – besser – was würde sie konstant so reich versorgen, dass Aufstehen, und alles, was anschließend noch so folgen würde, sich gar nicht wie unsichtbare Hürden anfühlte, die es erst einmal zu überwinden galt. Wenn sie dieses ...

Fünf kurze Geschichten über Kürze

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  1. Geschichte Schöner Anblick – Schöner Tag. Mein Kopf hat sich heute noch nicht entschieden, wie es mir geht. Das Leben ist von immergleichen, weder guten noch schlechten Abläufen geprägt und die guten wie schlechten Nachrichten, seien es globale oder persönliche, scheinen mir recht ausgeglichen vertreten. Das Leben ist, ich bin, der Tag ist neutral. Ich schätze, das ist nicht die übelste Ausgangssituation. Dieser Tag ist ein weißes Papier, soll doch die Welt schauen, was sie darauf malt. Ich gehe durch die Straßen und lasse die Dinge, die ich sehe entscheiden, wie es mir geht. Schön, diese Verantwortung abzugeben. Und das erste, worauf mein Blick fällt, ist ein Liebespaar. Um genauer zu sein: ein altes Liebespaar. Nach meiner Schätzung, auch wenn ich wenn ich in solchen Fragen gerne mal weit danebenliege: sehr alt. Sie stützen einander. Er flüstert ihr etwas ins Ohr, sie kichert, er greift nach ihrer Hand und gemeinsam spazieren sie die Promenade entlang. Ein kurzer Anblick, de...

Ebenina Screege

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  Marley war tot, damit wollen wir beginnen. Es ist wichtig, dies zu betonen, um die Tragweite der Begegnung hervorzuheben, von der ihr bald hören werdet. Marley war ohne Zweifel sehr sehr tot. Äußert lebendig, auf der anderen Seite, war seine Geschäftspartnerin, sowie engste und einzige Vertraute im Leben, Ebenina Screege. Marley unter der Erde, und Screege am Leben zu wissen, erfüllte einige mit Menschen mit Freude. Denn Marley war kein beliebter Mann gewesen. Er galt als kaltherzig und ungerecht. Dabei war er durchaus großzügig gewesen. Er hatte viel seines hart ererbten Geldes an große Unternehmen und Politiker gespendet, auf das diese die gesamte Gesellschaft reicher machten. Zumindest im Durchschnitt. Und er hatte stets mit besten Absichten Motivationsansprachen auf den Lippen gehabt, um der arbeitenden, jedoch nicht wohlhabenden Bevölkerung, mehr Arbeit, und folglich mehr Wohlstand nahezulegen. Er hatte jedoch zeit seines Lebens zu einer gewissen Gleichgültigkeit und Häme ge...

Der Beobachter

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 Es hatte sich etwas verändert. Die Welt. Vor einigen Stunden hat sie noch Sinn ergeben. Aber jetzt? Marlas Tag hatte ganz normal begonnen. Beinahe. Da war nur dieses … Gefühl. Aber nein, das war nichts. Wohl nur ein Unbehagen, das sie aus einem Traum mitgebracht hatte, an den sie sich bereits nicht mehr erinnern konnte. Nein. Es war ein normaler Morgen. Aufgestanden. Geduscht. Angezogen. Make up aufgelegt. Beim Frühstück haben Theo und sie sich darauf geeinigt, dass sie Lachsgratin zu Abend essen würden. Sie würde nach der Arbeit den Guten in der Markthalle besorgen. Nach der Arbeit. Ein Abschiedskuss. Der kurzfristige Entschluss, das Fahrrad stehen zu lassen und zu Fuß ins Büro zu gehen. Denn sie war früh dran, hatte Zeit und wollte das Wetter genießen. Das Wetter. Es war doch sonnig. Warm. Angenehm. Normal. Alles normal. Beinahe. Nur dieses Kribbeln im Nacken. Der Arbeitstag. Nicht stressig, nicht langweilig. Angenehmes Arbeitspensum. Keine Dramen, harmlose Lästereien in der Kaf...